Architektouren – Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa (SANAA) zu Besuch in unserem Haus Potsdamer Straße

Ein Beitrag von Christian Mathieu und Gudrun Nelson-Busch

Vom 13. bis zum 15. August 2024 war eine Seminargruppe von 20 Studierenden der Graduate School of Architecture der Yokohama National University zu Gast in unserem Haus Potsdamer Straße. Diese Exkursion stand unter der Leitung der beiden u.a. mit dem Pritzker-Preis, gewissermaßen dem ‚Nobelpreis für Architektur‘, ausgezeichneten Köpfe hinter dem weltweit tätigen Tokioter Büro SANAA: Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa.

Diese drei Tage bei uns waren exklusiv dem Ziel gewidmet, ein sowohl intellektuelles wie sinnliches Verständnis der 1978 eröffneten und nach wie vor faszinierenden Bibliotheksvision von Hans Scharoun am Berliner Kulturforum zu gewinnen.

Nach Begrüßung unserer Gäste durch Vertreterinnen des Baureferats der Staatsbibliothek sowie einem Ausblick der verantwortlichen Mitarbeiterin des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung auf die geplante, dem Hamburger Büro gmp. Architekten von Gerkan, Marg und Partner übertragene Grundinstandsetzung ging es an die Erkundung des Gebäudes. ‚Amazing‘ fand  Ryūe Nishizawa die Lesesaal-Landschaft, die selbstverständlich den Schwerpunkt der Führung bildete. Nach einem Blick hinter die Kulissen – durch den Großraum in den Bücherturm und wieder hinab in den Otto-Braun-Saal – folgte das Studium der historischen Baupläne, schließlich noch selbstständige Streifzüge der Studierenden mit Kamera und Zeichenblock. Als Dialogpartner standen ihnen dabei Dr. Christian Raabe, Professor für Denkmalpflege und Historische Bauforschung an der RWTH Aachen University, der sich im Zuge eines mehrjährigen Forschungsprojekts mit Hans Scharouns Raumanlagen beschäftigt und Carsten Krohn, Architekt, Kunsthistoriker und u. a. Autor des Werkes ‚Hans Scharoun – Bauten und Projekte‘ zur Verfügung.

Das Interesse von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa an Hans Scharouns Sicht einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Bibliothek vermag dabei kaum zu verwundern, nimmt sich SANAA doch nicht nur dem Entwurf von Museen, Forschungs- oder Kultureinrichtungen an, sondern auch dieser Bauaufgabe, wie besonders prominent das 2010 eröffnete Rolex Learning Center der École polytechnique fédérale de Lausanne dokumentiert. Ebenso wie unser Haus Potsdamer Straße umfasst dieses Mul­ti­funk­tionsge­bäude neben dem eigentlichen Bibliotheksbereich auch Hör­säle, Aus­stel­lungsflächen, Kon­fe­renz- und Ar­beits­räume. Und die Parallelen zwischen beiden Architekturen bleiben keineswegs auf die funktionale Dimension beschränkt: Auch die Ästhetiken von Hans Scharoun und SANAA haben nämlich einen gemeinsamen Bezugspunkt – im Konzept des Bands.

Eingangsbereich des Rolex Learning Centers

„In den Vorarbeiten zum Wettbewerb“ – so Hans Scharouns kongenialer Büropartner Edgar Wisniewski mit Blick auf die Staatsbibliothek – „entstanden die bibliotheksbezogenen Raumfolgen auf dem Weg des Buchs: Poststelle – Akzession – Katalogisierung – Einbandstelle – Magazin; hieraus folgten die bandartigen Strukturen des Gebäudes. Das Band der Lesesäle und die in der Mitte liegende technische Kernzone mit den Treppenanlagen, Aufzügen, Ausgaben und Sanitärräumen u.a. waren zu der bandartigen Struktur der bibliothekarischen Räume die logische Konsequenz und räumliche Entsprechung. Der städtebauliche Archetyp der Bandstadt oder Scharouns Definition des geistigen Bandes Berlins – der Ost-Westreihung geistiger Wirkkräfte vom Alexanderplatz bis Charlottenburg – war in reduzierter Dimension wohl der Urimpuls zur Gesamtanlage.“[1]

Lesesaal der Staatsbibliothek im Haus Potsdamer Straße

Dagegen sind solche bandförmigen Strukturen im Œuvre des Tokioter Büros eher horizontal orientiert, folgen doch zahlreiche seiner realisierten wie nur Entwurf gebliebenen Bauten – darunter auch das Rolex Learning Center – geschmeidig dem Geländeverlauf in seinen Wechsel von Erhebungen und Vertiefungen oder wölben sich zu Schlingen auf.

Lesesaal im Rolex Learning Center

Blick von einer Empore im Lesesaal des Rolex Learning Centers

Noch augenfälliger werden die Bezüge zwischen den Bibliotheksgebäuden in Berlin und Lausanne bei einem Blick in ihren Innenraum, der in beiden Fällen als offenes, scheinbar unbegrenzt-richtungsloses, sich an unterschiedliche Nutzungsszenarien anpassendes fluides Kontinuum konzipiert ist. Tatsächlich war dieser Effekt in Hans Scharouns Planungen noch weitaus stärker angelegt, denn er hatte sogar kommunikative Zonen im zentralen Lesesaal vorgesehen, abgeschirmt von speziellen Deckenreflektoren zur Geräuschreduktion nach Entwurf des renommierten Gebäudeakustikers Lothar Cremer.[2] Ähnlich den von Edgar Wisniewski als Attacke auf Scharouns Ästhetik beklagten nachträglich eingebauten Regalsystemen – die ursprünglich vorgesehene Zahl von 1.200 Leseplätzen halbierte sich dadurch[3] – sollte aber auch diese Idee an den benutzungspraktischen Vorgaben der damaligen Bibliotheksleitung scheitern.[4] Und Scharouns Büropartner war mit seinem Ärger über den „mit Bücheregalen überfüllten“[5] Lesesaal nicht alleine, wie etwa die Besprechung des frisch eröffneten Gebäudes durch den Berliner Architekturkritiker Julius Posener dokumentiert: „Nicht wenige Details wirken falsch, falsch im Sinne Scharouns.“[6]

Vor diesem Hintergrund hat es also geradezu den Anschein, als entfalte erst die Bibliotheksarchitektur des 21. Jahrhunderts das radikale Modernitätspotential von Hans Scharouns Bibliotheksvision. Angesichts dieser (vermuteten) Resonanzbeziehung war es nun vielleicht naheliegend, Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa als Gastgeschenk unser preisgekröntes CD-Projekt mit dem Hörverlag speak low und der Medienwissenschaftlerin Hannah Wiemer zur akustischen Vermessung unseres Scharoun-Gebäudes zu überreichen. Wie die Sounds of Stabi wohl im Rolex Learning Center klingen würden?

[1] Edgar Wisniewski: Raumvision und Struktur: Gedanken über Hans Scharouns Konzeption zum Bau der Staatsbibliothek, in: Ekkehart Vesper (Hg.): Festgabe zur Eröffnung des Neubaus in Berlin: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Wiesbaden 1978, S. 144-158; hier S. 144 f.

[2] Siehe dazu Hannah Wiemer: The West Berlin Staatsbibliothek and the Sound Politics of Libraries, in: Grey Room 87 (2022), S. 44-65, https://doi.org/10.1162/grey_a_00343.

[3] Vgl. Wisniewski, Raumvision und Struktur, S. 153.

[4] Vgl. Edgar Wisniewski: Hans Scharouns letztes Werk für Berlin: ein Bericht über den fertiggestellten Bau, in: Bauwelt 70 (1979), S. 15-19; hier. S. 17.

[5] Julius Posener: Fragen zur Staatsbibliothek, in: Arch+ 43/44 (1979), S. 5-8; S. 6.

[6] A.a.O., S. 7.

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