Ganz großes Kunstkopfkino, oder: Stabi geht ins Ohr. Jetzt aber wirklich!

Gut Ding will bekanntlich Weile haben, aber nun ist unser ziemlich ver(kunst)kopftes Projekt mit dem Hörverlag speak low zur Vermessung der auditiven Signatur unseres Scharoun-Gebäudes endlich abgeschlossen. Die dabei entstandene Doppel-CD ist im Buchhandel erhältlich (und naturgemäß auch bei uns zur Ausleihe) oder direkt über speak low. Alle Geräuschaufnahmen stehen im Stereo- und Binauralformat zum kostenfreien Download für den nicht-kommerziellen Privatgebrauch zur Verfügung via: https://doi.org/10.58159/20231218-000. Eine virtuelle Ausstellung dokumentiert dieses Akustik-Projekt, das im März 2024 sogar die Spitzenposition der hr2-Hörbuchbestenliste erklommen hat und zudem auch für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert ist – in der Kategorie Wortkunst.

Nach seinem vielzitierten Diktum wähnte sich Johann Wolfgang von Goethe 1801 bei seinem Besuch der Göttinger Universitätsbibliothek „in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.“ Aber wie geräuschlos läuft dieser schöpferische Verzinsungsprozess in unmittelbarer Nachbarschaft von Büchern eigentlich tatsächlich ab? Denn entgegen ihres Namens sind Lesesäle doch keineswegs nur Räume der kontemplativen, stillen Rezeption, sondern auch und ganz überwiegend Schreibsäle, wissenschaftliche wie literarische Produktionsstätten, Kollektivbetriebe in ihre jeweilige Arbeit vertiefter Einzelpersonen – mit einer spezifischen Geräuschkulisse.

Auch die berühmte, in unserem Haus Potsdamer Straße gedrehte Lesesaalszene in Wim Wenders‘ Film Der Himmel über Berlin aus dem Jahr 1987 spielt mit visuellen wie akustischen Mitteln auf die Kopräsenz der leiblich Anwesenden sowie der abwesend Anwesenden, der in Büchern materialisierten Gedanken teils längst verstorbener Personen an. In besagter Sequenz durchschreiten die beiden in die Welt gekommenen, für Menschenaugen unsichtbaren Engel Damiel und Cassiel unbemerkt den von Hans Scharoun entworfenen landschaftsartigen Lesesaal – begleitet von einem unablässigen raunenden Gemurmel, dessen Quelle letztlich unklar bleibt: Werden so die tagtäglich dort entstehenden Texte bzw. die Gedanken der zahlreichen Anwesenden hörbar, oder strahlt dieses Klangkontinuum von den beschrifteten Buchrücken im Regal aus, die gewissermaßen die Inhalte der darin aufgestellten Werke in den Raum übertragen?

Dem hier nur angedeuteten Zusammenhang zwischen Raumwirkung und Geräuschkulisse wollen auch wir direkt vor Ort etwas genauer nachspüren, oder vielmehr: nachhören. Schließlich ist beiden ein unerhörtes Merkmal gemeinsam: Sie kommen vom Band (mehr darüber erfahren Sie in diesem Vortragsmitschnitt). Zur Seite stehen uns bei diesem Vorhaben der Berliner Audioverlag speak low und die Medienwissenschaftlerin Hannah Wiemer, die im Rahmen eines Forschungsprojekts das Charakteristische der Akustik unseres Scharoun-Gebäudes untersucht hat – unter der Leitfrage: Was macht den Klang der Stabi aus?

Es versteht sich, dass die akustische Vermessung einer derart charaktervollen Architekturikone die Einschaltung veritabler Charakterköpfe erfordert – hinterm wie am Mikrofon. Konsequenterweise haben sich die beiden Tonmeister von speak low daher für den Einsatz von Kunstkopf-Stereophonie entschieden, eines 1925 entwickelten und im Herbst 1973 im Rahmen der Internationalen Funkausstellung in Berlin dem westdeutschen Publikum vorgestellten Verfahrens zur binauralen Tonaufnahme. Gerade im Vergleich zu Stereo ermöglicht diese Technologie einen deutlich realitätsnäheren räumlichen Höreindruck.

Freilich machen keineswegs nur dieser Vorzug, der Berlin-Konnex sowie die zeitliche Koinzidenz zum Richtfest unseres Scharoun-Gebäudes am 16. November 1973 Kunstkopf-Stereophonie zum Mittel der Wahl. Auch als Forschungsbibliothek mit geistes- und kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt erklären wir uns mit der Entscheidung für dieses Aufnahmeverfahren sehr einverstanden, wurde es doch unlängst zum Gegenstand eines medienhistorischen Forschungsprojekts der Universität Luxemburg erhoben.

Erhebendes möchten aber auch wir Ihnen präsentieren – unser kleiner Lauschangriff soll nämlich zum großen Flauschangriff auf Ihre Ohren werden! Bis dahin wird es allerdings noch etwas dauern, denn die Aufnahmen der Geräuschkulissen u.a. von Lesesaal, Foyer, Cafeteria, Kopierstelle, Aufzügen sowie unseres geheimen Stars, der Kastenförderanlage, müssen noch geschnitten und die Begleittexte von professionellen Stimmen eingesprochen werden. Bis zu Hans Scharouns 130. Geburtstag am 20. September dieses Jahres sollte es uns aber hoffentlich gelingen, Sie zu einem akustischen Spaziergang durch unser Haus Potsdamer Straße einzuladen (und das selbstverständlich in jeder Hinsicht) – so dass Sie Ihre eigenen vier Wände dann jederzeit zur Staatsbibliothek zu Berlin machen können.

Ein Echo unseres Akustikprojekts können Sie übrigens schon vorab auf der Architektur-Biennale von Venedig erleben, schließlich steht ihre diesjährige Ausgabe unter dem Motto The Laboratory of the Future. Dort präsentiert gmp sieben Umbauvorhaben in der gestalterischen Verantwortung dieses international agierenden Architekturbüros – darunter die geplante Generalsanierung unseres Scharoun-Gebäudes. Inszeniert werden die im Rahmen der Ausstellung UMBAU – Nonstop Transformation vorgestellten Fallbeispiele für einen klimagerechten Umgang mit dem Architekturerbe der Moderne nicht nur mit visuellen Mitteln, sondern auch in Form von Klanginstallationen. Also hört, hört!

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