Talkin‘ ‚bout a revolution
Die bewährte Kooperation zwischen dem internationalen literaturfestival berlin (ilb), der Humboldt-Universität zu Berlin und der Staatsbibliothek zu Berlin erfuhr in diesem Jahr insofern eine revolutionäre Neuerung, als dass in den Räumen der Staatsbibliothek nicht nur die sonst übliche abendliche Vorstellung einer Kinderbuchautorin oder eines Kinderbuchillustrators stattfand, sondern darüber hinaus eine kleine Ausstellung gezeigt und eine Fachtagung mit Vorträgen zum Thema „Kinder- und Jugendliteratur in revolutionären Kontexten“ abgehalten wurde.
Frau Prof. Dr. Julia Benner, Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur, Kinder- und Jugendliteratur und -medien an der Humboldt-Universität, hatte sich im Rahmen eines Masterseminars mit ihren Studierenden dem Thema revolutionärer Kinder- und Jugendliteratur gewidmet. Daraus entstand eine Vitrinenausstellung, die aus den Beständen der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek bestückt und mit Exponatbeschreibungen der Studierenden versehen wurde. Die Buchauswahl reichte vom frühen 19. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Titeln, darunter Isabel Minhós Martins‘ Bilderbuch „Hier kommt keiner durch!“, mit Illustrationen von Bernardo P. Carvalho, das 2017 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Ab 14 Uhr stand der zweite Teil der Fachtagung zu diesem Thema auf dem Programm. Wiebke Helm (Universität Leipzig) befasste sich mit der Französischen Revolution im Kinderbuch der DDR, einem Thema, das sowohl in der ost- als auch der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur erstaunlich selten aufgenommen wurde. Von den insgesamt fünf Titeln, die zu DDR-Zeiten im größten staatseigenen Verlag, dem Kinderbuchverlag Berlin, erschienen, kamen gleich zwei erst 1989 auf den Markt, als die Problematik, die bürgerliche Revolution der Franzosen als Vorbild für Arbeitersolidarität zu präsentieren, gerade an Bedeutung verlor.
Ebenso wie Frau Helm zeigte sich anschließend auch Frau Dr. Jana Mikota (Universität Siegen) in ihrem Vortrag „Das Jahr 1918 in der Kinder- und Jugendliteratur“ erstaunt über das ungewöhnlich hohe Maß an Brutalität, das dem jungen Publikum sowohl im Text als auch im Bild zugemutet wurde. Darüber hinaus berichtete sie von einer politisch motivierten Aschenbrödel-Adaption, die sie in einer Märchenanthologie der Übersetzerin und Autorin Hermynia zur Mühlen, einer überzeugten Kommunistin, fand. Zur Mühlen ließ Aschenbrödel als Arbeiterin in ihrer typischen Alltagskleidung zum Ball gehen. Der Prinz, der eine „echte“ Frau suchte, keine untätige, verwöhnte Prinzessin, verliebt sich in sie – zu seinem großen Glück. Als kurz darauf der Palast vom Proletariat gestürmt wird, verschont man ihn genau aufgrund dieser Haltung. Entscheidend ist dann nur noch, dass sich der Prinz der Arbeiterbewegung anschließt.
Als Angehörigen der etablierten Bourgeoisie, der seine Mitbürger jedoch mitunter gerne durch wenig standesgemäße, politisch aufmüpfige Taten und Schriften provozierte, führte Beate Zekorn-von Bebenburg anschließend Heinrich Hoffmann, den „Vater“ des Struwwelpeters, ein. Die Leiterin des Frankfurter Heinrich-Hoffmann- und Struwwelpeter-Museums widmete sich der Frage vom „Struwwelpeter als Symbolfigur für politischen Protest“. Der Struwwelpeter, 1845 erstmals im Druck erschienen, erfreute sich entgegen der damals sehr langsamen Verbreitung gedruckter Werke bereits zwei Jahre später eines solchen Bekanntheitsgrades, dass die Figur 1847 im Münchener Satiremagazin „Fliegende Blätter“ als Radikaler auftrat. Damit hatte das Bilderbuch die Zielgruppe gewechselt. Struwwelpetriaden wurden ab dem Herbst 1849, nach dem Scheitern der Revolution von 1848, zur Ausdrucksform politischer Kritik. Die Protagonisten rekrutierten sich insofern oftmals aus den obersten Etagen der Politik. Es sei daher erstaunlich, so Frau Zekorn-von Bebenburg, dass bislang niemand einen „Trumpelpeter“ produziert habe. Material gebe es ja schließlich genug. [Sämtliche Vorträge erscheinen in Heft 1.2019 der Fachzeitschrift kjl&m.]
Der Ortswechsel – vom Dietrich-Bonhoeffer-Saal, in dem bis zum Ende der Öffnungszeit der Staatsbibliothek die interessante Vitrinenausstellung zur Besichtigung einlud, hinunter in den Simon-Bolivar-Saal – erwies sich in diesem besonderen Fall als sehr angemessen, um den Bilderbuchautor und -Illustrator Duncan Tonatiuh willkommen zu heißen. Tonatiuh, in Mexiko geboren und aufgewachsen, in den USA ausgebildet und mit Familienhintergrund in beiden Ländern, lehnt sich stilistisch an die Formensprache der Mixteken an, bearbeitet aber Themen, die in beiden Ländern zuhause sind, bzw. Bedeutung haben. Carola Pohlmann, Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung, hob in ihrer Begrüßung hervor, dass der Ton von Tonatiuhs Bilderbüchern nicht etwa beschwichtigend und friedlich, sondern vielmehr kämpferisch sei. Tonatiuh spreche Konflikte an.
Im Anschluss an das Grußwort Christoph Riegers, Programmleiter „Internationale Kinder- und Jugendliteratur“ des ilb, erfuhr das altersmäßig bunt gemischte Publikum sowohl im Gespräch mit Carola Pohlmann als auch im Rahmen einer eigenen Präsentation des Künstlers mehr über dessen Motivation und Arbeitsweise – alles perfekt übersetzt von Milena Adam.
Er sei in Mexiko geboren und aufgewachsen, erzählte Duncan Tonatiuh, sei dann aber als Oberschüler in die Heimat seines Vaters nach Massachusetts gezogen, da ihm die High School in Mexiko nicht gefallen habe. Im Laufe der Zeit wurde ihm jedoch klar, welche ganz alltäglichen, wohlvertrauten Dinge ihm in den USA fehlten, z.B. die mexikanischen Feiertage, die Musik und das Essen. In den Hausarbeiten, die er während seines Kunststudiums anzufertigen hatte, versuchte er deshalb, einen Bezug zu seiner mütterlichen Heimat herzustellen. Allerdings sei er bis kurz vor seinem Studienabschluss davon ausgegangen, dass er später Kunst für ein erwachsenes Publikum schaffen würde.
Während der Themensuche für das Kunstprojekt zur Zwischenprüfung fiel ihm auf, dass es in den USA zwar einerseits einen erheblichen Bevölkerungsanteil mit mittel- und südamerikanischen Wurzeln gibt, aber nur sehr wenige Bücher, die diese Bevölkerungsgruppe repräsentieren. Er beschloss daher, ein Bilderbuch über die Lebensgeschichte seines Freundes Juan aus New York City zu gestalten, einem illegalen Einwanderer, der sich tausende Meilen von seiner südmexikanischen Heimat und mixtekischen Kultur entfernt in der größten Stadt der USA als Busfahrer durchschlägt. Tonatiuh begab sich für dieses Projekt zunächst in die Bibliothek und recherchierte nach typischen Stilformen mixtekischer Kunst. Die mixtekische Bilderschrift war ihm durchaus bekannt, wenn er sich bis dahin auch nie bewusst mit ihr auseinandergesetzt hatte. Allein ihre Nähe zu den von ihm sehr geschätzten Comics übte aber eine gewisse Anziehungskraft aus. Und so entstand “Undocumented“ in genau dieser Tradition. Das Werk wurde bis zur Prüfung nicht ganz fertig, die betreuende Professorin war aber derartig angetan, dass sie Tonatiuh einem Kinderbuchverleger vorstellte, der ihm wiederum „die Welt der Kinderbücher eröffnete“. Sieben Bilderbücher des Künstlers erschienen daraufhin im Verlag Abrams Books for Young Readers. Am 7. August 2018 folgte schließlich die vollendete Geschichte des um seinen Mindestlohn betrogenen, illegalen Arbeiters Juan.
Jedes einzelne Buch sei ein “team effort“ (eine Gemeinschaftsarbeit), bekannte Tonatiuh. So habe der Verleger ihn auf die Idee gebracht, den einzelnen Büchern Glossare sowie ein Nachwort des Autors beizugeben, in dem zusätzliche Informationen zur Geschichte, die im eigentlichen Text keinen Platz finden, untergebracht werden können. Im Zuge seiner Lesungen in unterschiedlichen Schulen sei ihm beispielsweise aufgefallen, erzählte Tonatiuh, dass es, obgleich die Rassentrennung in den USA vor über 50 Jahren abgeschafft wurde, im Schulwesen noch immer zu einer solchen Separation komme: In wohlhabenden Stadtbezirken würden die Schulen hauptsächlich von weißen Kindern besucht, in den ärmeren Bezirken seien dann die Kinder mit mexikanischem oder afroamerikanischem Familienhintergrund anzutreffen. Diesen Sachverhalt habe er beispielsweise in einer Anmerkung in “Separate is Never Equal“, der Geschichte um den rassistisch motivierten Schulausschluss von Sylvia Mendez in den 1940er Jahren, erläutert.
Anhand eines Videoclips erklärte Duncan Tonatiuh anschaulich, wie seine Bücher üblicherweise entstehen: Die ersten Schritte seiner Arbeit führen den Künstler auch heute noch in die Bibliothek, da er dort in Ruhe recherchieren und ohne große Ablenkungen schreiben und zeichnen kann. Wenn die Arbeit an einer Geschichte fast beendet ist, sucht er den Kontakt zum Verleger und ein reger Austausch beginnt. Gleichzeitig fertigt Tonatiuh erste Skizzen an, und sobald nach etwa vier bis fünf Überarbeitungen der Text im Wesentlichen feststeht, beginnt die ernsthafte Phase des Zeichnens. Die ersten Bilder entstehen als Bleistiftzeichnung, um problemlos Korrekturen vornehmen zu können. Es folgt ein Nachzeichnen der Konturen mit Tusche. Dann werden die Bilder eingescannt und am Rechner weiterbearbeitet, d.h. die einzelnen kleinen Bildbereiche werden selektiert und mit Texturen und Farben gefüllt. Der allerletzte Arbeitsschritt besteht darin, einen attraktiven Titel zu finden. Alles in allem, schätzt Tonatiuh, dauert die Produktion eines Buches ungefähr ein Jahr.
Wichtig sei ihm, seiner Leserschaft Geschichten über Menschen oder Sachverhalte zu präsentieren, die noch nicht weithin bekannt sind. Den Fall „Brown vs. Board of Education“ (diverse Klagen in den frühen 1950er Jahren gegen die Rassentrennung an öffentlichen Schulen) kenne in den USA jeder, der Fall der Sylvia Mendez dagegen, deren Eltern bereits knapp zehn Jahre zuvor in Kalifornien erfolgreich gegen den Schulausschluss ihrer Tochter klagten, habe keinen hohen Bekanntheitsgrad, obgleich er den späteren Klagen den Weg ebnete. Grundsätzlich möchte Tonatiuh sowohl mit seinen Geschichten als auch seiner Kunst ein breites Publikum erreichen. Dass gerade Kinder in diesem Zusammenhang besonders anspruchsvoll und konsequent sind, ist ihm durchaus bewusst. “If they’re not entertained, you won’t get their attention!“
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