Nicht nur „FÜR ELISE“
Dass Beethovens Musik ausgerechnet im Jahr seines 250. Geburtstages Menschen mobilisieren würde, um sich gegenseitig Mut zu machen und das Gemeinschaftsgefühl in Zeiten der weltweiten Corona-Krise zu stärken, hätte niemand geahnt.
Punkt 18 Uhr öffneten sich am 22. März 2020 die Fenster und wer kein Instrument spielte, der sang einfach mit. Von den Balkonen ertönte „Freude, schöner Götterfunken“, aber nicht nur dieses Schlüsselwerk Beethovens kam zu Gehör.
Die elfjährige Johanna meiner Nachbarsfamilie spielte den Ohrwurm „Für Elise“. Das Finale der Neunten Sinfonie ist für die junge Klavierschülerin zu schwer und sie spielte einfach das, was sie am besten konnte – jenes Klavierstück a-Moll, das allein schon wegen seines Titels der ambitioniert recherchierenden Musikfachwelt Rätsel aufgibt. Aber was ist dran an dieser Klavierkomposition, die es zu einer beträchtlichen Popularität brachte?
Die Zuschreibung des Werkes basiert auf zwei Skizzenvorlagen: Die erste Quelle beinhaltet eine 16taktige Skizze der Melodie, die aus dem Jahr 1808 stammt. Sie befindet sich im Skizzenbuch Landsberg 10, das in der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt wird. Die zweite Quelle – der ausgearbeitete Entwurf – befindet sich im Doppelblatt BH 116 des Beethoven-Hauses Bonn und ist dem Jahr 1810 zuzuordnen. Eine vollständige autographe Niederschrift des Klavierstückes „Für Elise“ gibt es nicht. Sie gilt als verschollen bzw. ist deren Existenz nur durch eine Fußnote in der Erstveröffentlichung von 1865 bei C. F. Kahnt überliefert. Der Beethovenforscher Ludwig Nohl (1831–1885) hatte eine Kopie von dem Originalmanuskript angefertigt, das sich in Münchner Privatbesitz befand. Nohl erhielt das Privileg für die Herausgabe des Werkes und gilt damit als Schlüsselfigur bei der Entdeckung des Werkes. Den entscheidenden Hinweis auf die Widmungsempfängerin gab er in seiner Briefausgabe (1867), die neben anderen Gelegenheitskompositionen auch das Klavierstück a-Moll enthält: „Für Elise am 27 April zur Erinnerung von L. v. Bthvn.“ Aber stammt diese Überschrift von Beethoven?
Das gefällige und leicht spielbare Klavierstück mit dem Beinamen Für Elise eroberte durch zahlreiche Ausgaben ab den 1890er Jahren die Welt der Hausmusiksalons, der Klavierschulen und Konzertsäle und niemand zweifelte an der Adressatin namens „Elise“. Erst durch eine Studie des Musikwissenschaftlers Max Unger im Jahr 1923, worin dieser behauptet, Nohl könnte sich verlesen haben, entstand die Frage nach der „wahren“ Widmungsträgerin. Aus „Elise“ wurde „Therese“, aber die wissenschaftlichen Belege sprechen gegen diese Annahme. Hängt die Popularität des Klavierstücks a-Moll vielleicht auch mit dem Mythos der Zueignung zusammen? In einer ominösen Geschichte liegt das Potential zu einem Mythos, der eine starke Faszination ausstrahlt. Hierbei handelt es sich um Phänomene mit alltagstauglichem Charakter, die sich über Epochen und Generationen hinwegsetzen. Da die wissenschaftlichen Disziplinen keine unmittelbaren Beweise liefern konnten, bleibt ein Mythos bestehen. Mythos. Elise – oder ist Elise ein Mythos? Das Ergebnis ist vieldeutig, wobei eines feststeht: Wenn das Geheimnis um den Namen eines Tages aufgrund neu aufgefundener Quellen gelüftet werden sollte, wird das Ergebnis an der außerordentlichen Popularität des Klavierstücks Für Elise nichts ändern. Beethovens Werk wird auch weiterhin großen und kleinen Klaviervirtuosen und -virtuosinnen nahe gebracht werden.
Ergänzend zur Beethoven-Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin ist im Michael Imhof Verlag der Begleitband erschienen, der die Entstehungsgeschichte der Berliner Beethoven-Sammlung erzählt und in dem die Berliner Beethoven-Bestände unter die Lupe genommen werden.
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