Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse des Feindbildes in den deutschen Romanen zum Ersten Weltkrieg
Gastbeitrag von Dr. Messan Tossa
Am 11. November 2018 im französischen Compiègne zeigten sich der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel Seite an Seite bei den Feierlichkeiten zur Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkrieges. Dieser Auftritt steht heute im Zeichen eines unwiderruflichen Verpönens des Krieges als Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit anderen Mitteln. Ein solches Zusammentreffen deutscher und französischer ehemaliger ‚Erbfeinde‘ zum Gedenken an die Kriegsgefallenen nimmt folgender Auszug aus dem Roman Eine Jugend in Deutschland von Ernst Toller vorweg (S. 49):
„Dreihundert Meter rechts von uns, im Hexenkessel, liegt an einem Blockhaus, das zwanzigmal Besitz der Deutschen, zwanzigmal Besitz der Franzosen war, ein Haufen Leichen. Die Körper sind ineinander verschlungen wie in großer Umarmung […]“.
Diesem schaurigen Bild wohnt eine Ambivalenz inne: die unerhörte Verflechtung von Eros und Thanatos, von Tod und Affekt, indem Feinde sich im Tod umarmen.
In Anlehnung an die tradierten Kriegsepen Homers wurden Frontsoldaten als durch den Hassaffekt verblendete Akteure dargestellt, deren negative Gefühle dem Gegner gegenüber prägnanter Ausdruck des kriegerischen Habitus sind. Entgegen dieser verzerrten Darstellung des Frontsoldaten und den jeweiligen nationalen Feindbildern zum Trotz zeigen Fiktionen des Großen Krieges eine empathische Affizierung des Soldaten auf. Deutsche Romane zum Ersten Weltkrieg inszenieren Figuren, die den Prozess der Konstruktion des Feindes rückgängig machen und feindlichen Soldaten mit Empathie entgegenkommen.
Meine Studie geht davon aus, dass in den deutschen Romanen zum Ersten Weltkrieg die Haltung der Frontsoldaten den Feinden gegenüber auf einer Reihe von Narrativen basiert, deren Analyse Aufschluss über die Verinnerlichung des Feindbegriffs gibt. Die Verhaltensweisen der Frontkämpfer artikulieren sich innerhalb eines gesamteuropäischen mentalitätsgeschichtlichen Fundus‘, der die individuelle Weltauffassung diktiert. Generell setzten sich die Vorstellungen der Frontkämpfer aus einer Reihe von Wertvorstellungen zusammen, die vor dem jüdisch-christlichen Hintergrund der westlichen Zivilisation aus Kategorien wie Nation und Moderne bestehen. Von der graduellen Assimilierung dieser Kategorien hängt die persönliche Einstellung zu Krieg und Feindschaft ab. Die kollektive Festschreibung des Feindes wird in die persönliche Geschichte jedes Frontsoldaten differenziert eingelagert, wodurch seine Positionierung zum nationalen Feindbegriff diktiert wird.
Die Konfrontation zwischen Soldaten an den Fronten des Ersten Weltkriegs fand unter Bedingungen statt, unter denen das Verhältnis zueinander unter feindschaftlichen Vorzeichen stand. Diese Feindschaft ist kein Resultat sozialer Dynamiken, sondern Produkt einer zwingenden psychopolitischen Formatierung. Dies bildet das erste Kennzeichen der feindlichen Relationalität an den Fronten des Großen Krieges. Für Michael Jeismann (S. 382)
„ [war] dieser Antagonismus deshalb unaufhebbar, weil in der je nationalen Selbstdefinition der Widerpart durch den Feind notwendig mitgedacht werden musste. In der negativen Affirmation der Nation durch den Feind lag das Ordnungsprinzip der nationalen Weltanschauung.“
Daraus resultieren Spektren der Wahrnehmung des Feindes, deren semantische Konstruktion und Dekonstruktion meine Arbeit in die theoretischen Konstrukte von Zygmunt Baumans Moderne und Ambivalenz einlagert. In Anlehnung an Georg Simmels Analysemodell setzt sich Bauman mit den Konzepten Fremd – Freund – Feind auseinander, die als Instrumente zur Stabilisierung des sozialen Organismus funktionalisiert werden. Bauman notiert (S. 23) :
„Freunde und Feinde stehen in Opposition zueinander. Die ersten sind, was die zweiten nicht sind, und umgekehrt. Dies verweist nicht jedoch auf einen gleichen Status. Wie die meisten gegenüberliegenden Pole, die gleichzeitig die Welt, in der wir leben, und das Leben in der Welt ordnen, handelt es sich um eine Variation des beherrschenden Gegensatzes von Innen und Außen. Das Außen ist die Verneinung des Positiven der Innenseite. Das Außen ist, was das Innen nicht ist. Die Feinde sind, was die Freunde nicht sind. Die Feinde sind ‘umgekehrte’ Freunde; sie sind der Dschungel, der die vertraute Ordnung des Freundes aufhebt; die Abwesenheit, die die Gegenwart des Freundes leugnet.“
Die relationale Potenz dieser Konzepte wird in meiner Studie auf die Mikrostruktur der Frontgesellschaft im Krieg angewandt, die in den Werken Im Westen nichts Neues (1928) von Erich Maria Remarque, Erziehung vor Verdun (1935) von Arnold Zweig, Heeresbericht (1930) von Edlef Köppen, Die Katrin wird Soldat (1930) von Adrienne Thomas und In Stahlgewittern (1920) von Ernst Jünger gezeichnet wird. An diesen Werken wird aufgezeigt, wie die Erfahrung der Kriegsgewalt die psychoaffektive Haltung des Frontsoldaten aufbricht und neue Perzeptionen des Eigenseins und der Andersheit einführt. Hierbei profiliert sich der Erfahrungshorizont des Frontsoldaten in Bezug auf Fremdheit und Andersheit in einer Kategorisierung der Akteure nach Feinden und Freunden, wie sie das Ordnungsprinzip des Krieges vorschreibt. Das Eigene stuft den Fremden im Kontext eines labilen sozialen Organismus ein, in dem sich durch die stetigen Truppenbewegungen, die Gegenwart von Fremden eigener und verbündeter Nationen und die Unstabilität der Frontlinien neue relationale Komplexe in den zwischenmenschlichen Beziehungen herausbilden. Aufschlussreich ist daher das Postulat Wildens (S. 268):
„ Es gibt somit nicht den Fremden ‘an sich’, sondern immer nur den Fremden, der in Relation zu einer bestimmten Ordnung, einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Konstruktion von Wirklichkeit gesetzt wird. »
Wie sich diese vielschichtigen Dimensionen des Feindbegriffs in deutschen Romanen zum Ersten Weltkrieg herauskristallisieren, ist Gegenstand meiner Studie.
Referenzen
Bauman, Zygmunt : „Moderne und Ambivalenz“. In: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Aten Welt? Hrsg. von Ulrich Bielefeld, Hamburger Edition, Hamburg, 1998. S. 23 – 49.
Jeismann, Michael : Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792‑1918. Klett Cotta Verlag, Stuttgart, 1992.
Jünger, Ernst: In Stahlgewittern [1920], Klett Cotta Verlag, Stuttgart, 1961.
Köppen, Edlef: Heeresbericht, [1930], Mit einem Nachwort von M. Gollbach, Scriptor Verlag, Kronberg i.T. 1976.
Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues [1928], Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2009.
Thomas, Adrienne : Die Katrin wird Soldat. Ein Roman aus Elsaß-Lothringen, Propyläen-Verlag, Berlin, 1930.
Toller, Ernst : Eine Jugend in Deutschland [1933], Rowohlt, Reinbek, 1994.
Wilden, Andrea : Die Konstruktion von Fremdheit. Eine interaktionistisch-konstruktivistische Perspektive, Waxmann, Münster, New York, München, Berlin, 2013.
Zweig, Arnold : Erziehung vor Verdun [1934], Aufbau Verlag, Berlin, Weimar, 1981.
Herr Dr. Messan Tossa,Université de Lomé, war im Rahmen des Stipendienprogramms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Jahr 2019 als Stipendiat an der Staatsbibliothek zu Berlin. Forschungsprojekt: „Zur Imagologie des Feindes in deutschen Antikriegsromanen des Ersten Weltkriegs“
Werkstattgespräch zum Feindbild in den deutschen Romanen zum Ersten Weltkrieg am 25. 6. 2019
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