First we took Berlin – ein weiterer Schritt zur Open Access-Transformation des nationalen typographischen Kulturerbes

Reichtum und Vielfalt der typographischen Kultur des Industriezeitalters spiegeln nicht alleine die erhaltenen Holz-, Blei- und Kunststofflettern sowie die damit hergestellten Bücher, Broschüren und anderen Druckprodukte, sondern auch die nur im Entwurf überlieferten Schriften, wie sie tausendfach in Schriftproben zu finden sind. Solche ephemeren Musterbücher mit einem Umfang von einem Blatt bis zu aberhundert Seiten dienten den gerade in Deutschland so zahlreichen Schriftgießereien zur Bewerbung einzelner Schriften bzw. zur Vermarktung ihres gesamten Typenportfolios, was diese Gattung zu einer zentralen Quelle u.a. der Kunst-, Medien- und Buchgeschichte und insbesondere der textuellen Materialitätsforschung macht. Denn im Gefolge des Material Turn der Geistes- und Kulturwissenschaften gewinnt die Dinghaftigkeit beschrifteter Objekte auf Forschungsseite zunehmend an Aufmerksamkeit. Zudem bergen Schriftproben großes Potential sowohl für Digital Humanities und Computer Vision – namentlich für die automatische Text- und Schrifterkennung (OCR) unter Einsatz Künstlicher Intelligenz – als auch für die Kreativwirtschaft, sind doch analog wie digital entworfene Fonts in der Regel von historischen Vorlagen abgeleitet.

Um vor diesem Hintergrund der gerade in Berlin damals wie heute so vibrierenden typographischen Kultur größere Sichtbarkeit zu verschaffen – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte es Leipzig als nationales Zentrum des Buchgewerbes ablösen –, führten Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin (SDTB), Erik Spiekermann Foundation (ESF), Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin (KB) und Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) 2021 ein gemeinsames Projekt im Landesdigitalisierungsprogramm digiS durch. Über sein eigentliches Kernziel hinaus, mehr als 600 Schriftproben lokaler Gießereien aus der Zeit vor 1951 virtuell zugänglich zu machen, verstand sich das Vorhaben Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access explizit auch als spartenübergreifendes Testfeld, um zunächst unter kontrollierten Bedingungen Praxiserfahrung für skalierte Folgeprojekte zur Digitalisierung und Erschließung des typographischen Kulturerbes auf überregionaler oder gar europäischer Ebene zu gewinnen. Und dieses optimistische Szenario ist nun tatsächlich eingetreten:

Denn die Deutschen Forschungsgemeinschaft wird über die kommenden 30 Monate das Verbundprojekt von SBB, KB, Deutscher Nationalbibliothek (DNB) und Forschenden der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Das typographische Kulturerbe Deutschlands im Industriezeitalter – ein Pilotvorhaben zur Massendigitalisierung historischer Schriftproben (1820–2000) fördern. In der Absicht, dem neuen Forschungsinteresse an Typographie ein solides Quellenfundament im Open Access zu schaffen, verfolgt das frisch bewilligte Vorhaben drei Kernziele. An sie ist die Erwartung geknüpft, nicht nur Typographie als gleichberechtigten Teil des schriftlichen Kulturerbes sichtbarer zu machen, sondern auch die Möglichkeiten und Perspektiven schriftbezogener Forschung grundlegend zu erweitern – von der Betrachtung bloß der in Büchern und anderen Werken abgedruckten Schriften hin zur Berücksichtigung des gesamten Typenrepertoires einer Zeit.

Erstens zielt das Projekt auf die Digitalisierung und dauerhaft uneingeschränkte virtuelle Zugänglichmachung der einander komplementierenden Bestände von DNB, SBB und KB an Schriftproben des deutschen Sprachraums im Zeitalter des industriellen Druckgewerbes seit 1820. Diese drei Sammlungen zählen im nationalen Vergleich mit Abstand zu den nach Umfang, Breite und Qualität herausragenden. Aufgrund der sich aus der juristischen Nischensituation der unkonventionellen Textgattung Schriftprobe ergebenden urheberrechtlichen Schutzlücke kann das Projekt sogar Objekte bis zum Erscheinungsjahr 2000 einbeziehen und insofern auch das neuerdings zu beobachtende Phänomen der New Culture of Type Specimens abbilden, mithin der Renaissance gedruckter Musterbücher genuin digitaler Fonts. Konkret ist die Open Access-Transformation eines Korpus von insgesamt 6.350 Schriftproben beabsichtigt: davon 3.700 aus den Sammlungen der DNB – konzentriert im Deutschen Buch- und Schriftmuseum ihres Leipziger Standorts –, zu denen 1.700 aus den Beständen der SBB sowie weitere 950 Exemplare aus dem Besitz der KB kommen.

Als zweites Projektziel ist im Dialog sowohl mit der akademischen Fachcommunity als auch den bibliothekarischen Standardisierungsgremien die Konzeption eines wissenschaftlich fundierten Klassifikations- und Erfassungsschemas für Werknormdaten für Druckschriften vorgesehen sowie dessen Anwendung zur tieferen inhaltlichen Erschließung des Digitalisierungskorpus. Denn die typographischen Inhalte der Gemeinsamen Normdatei (GND) – der größten spartenübergreifend genutzten Normdatensammlung im deutschsprachigen Raum – sind historisch gewachsen und daher teilweise uneinheitlich. Insofern dient deren Revision nicht nur spezifischen Projektzwecken, sondern auch der Erhöhung der allgemeinen Datenkonsistenz der GND und damit ihrer Anschlussfähigkeit für maschinelle Schriftarterkennungswerkzeuge.

Ebenfalls zur besseren Erschließung des Projektkorpus plant das Vorhaben drittens die Transkription ausgewählter Schriftproben als frei zu verwendendes Trainingsmaterial (Ground Truth) für die automatische Schrifterkennung unter Einsatz Künstlicher Intelligenz – in Hinblick sowohl auf die Verbesserung von OCR-Verfahren zur Volltexterzeugung als auch zur Identifikation identischer Schriften mit Mustererkennungsmethoden. Denn allen Erfolgen zum Trotz stellt die Bestimmung gerade älterer Typen, die mehr Variation im Formenprogramm aufweisen oder als Zierschriften solche Varianten sogar absichtlich einführen, noch immer eine Herausforderung für die maschinelle Schrifterkennung dar. Als Grundlage für die Erstellung von Trainingsmaterial sind Schriftproben vor allem wegen ihrer hohen Vielfalt an Schriftformen wertvoll, zeigt doch kein anderes Textmedium auf derart engem Raum eine solche Bandbreite an Varianten – zumal bei minimiertem Rechercheaufwand. OCR-Modelle, die auch Trainingsdaten aus Schriftmustern integrieren, sind daher deutlich robuster und zuverlässiger in der Erkennung von Vorlagen jenseits der gängigen Werkschriften.

Über seine drei Kernziele hinaus versteht sich dieses Projekt zugleich als Beitrag zur musterhaften Modellierung und Erprobung eines beliebig nachnutzbaren effizienten Workflows zur Massendigitalisierung einer unter materialem wie bibliographischem Aspekt herausfordernden Quellengattung. Angesichts des für den deutschen Sprachraum mehrfach angemahnten Desiderats einer Nationalbibliographie von Schriftproben ist an das Vorhaben perspektivisch noch eine weitere Erwartung gerichtet: Auf seinem Fundament soll im Rahmen eines Folgeprojekts mittelfristig ein spartenübergreifender digitaler Zugang zum typographischen Kulturerbe Deutschlands seit der Inkunabelzeit entstehen – nach dem Muster der thematischen Subportale der Deutschen Digitalen Bibliothek sowie unter Integration von Citizen Science-Elementen. Denn aufgrund seines schieren Umfangs – alleine zwischen 1871 und 1980 kamen schätzungsweise mehr als 11.000 neue Schriftschnitte auf den deutschen Markt – sowie seiner verstreuten Überlieferung in nur wenigen Gedächtniseinrichtungen mit namhaften Beständen und zahlreichen privaten Schriftprobensammlungen gering(er)en Umfangs wird die systematische Dokumentation, Digitalisierung und Erschließung des nationalen Kulturerbes an Druckschriften nur kollaborativ zu leisten sein.

Projektnummer: 558042196

 

 

 

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