First we take Berlin – ein typografiehistorischer Projektrückblick nach vorn

Wie bereits vor einigen Wochen angekündigt, haben wir unseren Zwölfmonatsplan zur Sichtbarmachung des Sichtbaren, d.h. zur Open Access-Zugänglichmachung des typografischen Kulturerbes Berlins, deutlich übererfüllt – und das mitnichten nur in Hinblick auf die pandemiebedingte Verlängerung der Projektlaufzeit. Denn im Zuge der Neukatalogisierung unserer Sammlung an Schriftproben – also jener Musterbücher mit einem Umfang von wenigen Blättern bis zu vielen hundert Seiten, die Gießereien und Druckereien zur Vermarktung ihres jeweiligen Angebots an Schriften, Zeichen und Zierelementen dienten – konnten wir noch die eine oder andere Entdeckung machen. Die größten Überraschungen barg dabei das Feld der ebenfalls in den Projektfokus genommenen auswärtigen Unternehmen, die von Berliner Gießereien und namentlich der Kreuzberger H. Berthold AG gezielt akquiriert werden sollten, um sich so Zugriff auf deren gestalterisches bzw. technisches Knowhow zu verschaffen.

Konkret haben wir – wie Sie über die hier ausgeschilderten Zugangswege erkunden können – im Rahmen des eingangs erwähnten und mit dem heutigen Tag endenden Verbundprojekt im digiS-Förderprogramm der Senatsverwaltung für Kultur und Europa anstelle der 220 ursprünglich vorgesehenen Berliner Schriftproben aus unserem sowie dem Bestand der Kunstbibliothek 326 Exemplare mit einem Gesamtvolumen von 26.309 Seiten digitalisiert. Hinzu kommen 201 Schriftmusterbücher aus den Sammlungen des hiesigen Technikmuseums mit weiteren 36.820 Aufnahmen sowie die Digitalisate der mehr als 300 von der Erik Spiekermann Foundation hergestellten Papierandrucke von einigen der erfolgreichsten Schriftfamilien der für das Projekt zentralen H. Berthold AG – Akzidenz-Grotesk, Block und Fanfare – in mehreren Versionen, Schriftschnitten und -graden.

Mit dem im der Folge nunmehr möglichen Vergleich der in den Musterbüchern publizierten Schriftentwürfe mit den tatsächlich produzierten Drucktypen möchte das Vorhaben – über die reine Open Access-Verfügbarmachung auch für die Kreativwirtschaft relevanten historischen Quellenmaterials hinaus – einen Impuls geben, das Methodeninstrumentarium der rasant expandierenden Material Culture Studies für typografiehistorische Forschungsdesigns zu erproben. Aber auch die gegenwärtig nicht minder boomenden Digital Humanities können von der systematischen Digitalisierung von Schriftproben bzw. -andrucken profitieren, liefern solche Zeichenkorpora doch hochwertiges Trainingsmaterial (Ground Truth) zur Optimierung von Algorithmen, wie sie für die automatische Texterkennung vermittels Verfahren der Optical Character Recognition (OCR) zur Anwendung kommen. Und schließlich versteht sich unser Gemeinschaftsprojekt als Beitrag zur Einlösung des wiederholt angemahnten Desiderats einer umfassenden buchwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung Schriftprobe.

Um diese hier nur angedeuteten Dimensionen systematisch auszumessen, organisiert das Projektkonsortium gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Beirat – in Person von Katharina Walter (Humboldt-Universität zu Berlin), Jürgen Franssen (Verein für die Schwarze Kunst) und Dan Reynolds (Hochschule Niederrhein) – vom 10. bis 11. Juni 2022 in den Räumen des Deutschen  Technikmuseums einen öffentlichen Workshop (mit einer pandemiebedingt leider sehr begrenzten Teilnehmendenzahl).

Unter dem programmatischen Titel Schriftproben in der Forschung – interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft, Sammlungseinrichtungen und Design soll diese ungewöhnliche Textgattung dabei zum einen im Dialog mit Forschenden aus ökonomisch-technologischer, ästhetischer, semiotischer und epistemischer Sicht in den Blick genommen werden. Zum anderen ist an die Veranstaltung die Erwartung gerichtet, die Chancen für weitere anschlussfähige Digitalisierungsvorhaben auf nationaler oder sogar auf europäischer Ebene zu sondieren – in Kooperation sowohl mit privaten Schriftprobensammlungen als auch den ebenfalls zu unserem Workshop eingeladenen zentralen Gedächtniseinrichtungen auf diesem Feld wie dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig oder dem Klingspor-Museum Offenbach.

Denn nie waren die förderpolitischen Rahmenbedingungen für den Ausbau des von Hans Reichardt initiierten Internationalen Index der Bleisatzschriften zu einem virtuellen Nachweisportal zur Dokumentation des typografischen Kulturerbes Deutschlands bzw. Europas – in Anlehnung etwa an unser Typenrepertorium der Wiegendrucke – günstiger, fördert doch die Deutsche Forschungsgemeinschaft neuerdings auch die Digitalisierung von forschungsrelevanten Objekten im Ausland bzw. in Privatbesitz.

Mit dem Abschluss unseres Verbundprojekts ist jedenfalls ein erster Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung von Typographie als Bestandteil des schriftlichen Kulturerbes erreicht. Rückblickend singen sagen wir mit Leonard Cohen: Hallelujah – und prospektiv: First we take Berlin

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