Zwischen Mythos und Wissen: Vom Leviathan zum Riesenkalmar

Ein Beitrag aus unserer Reihe Meere und Ozeane zum Wissenschaftsjahr 2016*2017

Im Meer gibt es in der Tat noch einiges zu entdecken. Bis zu 95 Prozent sind unerforscht. Man sagt, die Rückseite des Mondes sei besser erkundet als die Tiefsee mit ihren hohen Bergen, Lava spuckenden Vulkanen und bis zu 11.000 Meter tiefen Gräben. In fast vollständiger Dunkelheit ist sie der Lebensraum von Millionen unentdeckter Arten.

Die Tiere des Meeres sind seit jeher legendenumwobene Gestalten. Die Bibel spricht von einem Drachen aus dem Meer, in Homers Odyssee ist die Skylla ein Seeungeheuer mit zwölf abscheulichen Klauen und sechs Hälsen mit grässlichen Köpfen, während die römische Enzyklopädie Naturalis Historia von einem riesigen und fürchterlich stinkenden Polypen berichtet, der die Fischteiche der Küstenbewohner plündert. Auf Seekarten und Globen zeugen unzählige Abbildungen von Schiffe verschlingenden Oktopoden, kämpfenden Leviathanen und inselgroßen Seeschlangen von der Angst vor der Tiefe des Meeres, die die Seefahrer über Jahrhunderte begleitete.

Selbst die modernen Wissenschaften konnten dem Meer nicht alle Geheimnisse entreißen. Noch heute lassen sich Kryptozoologie (also die Beschäftigung mit Tieren, für deren Existenz es keine eindeutigen Belege gibt) und Zoologie nicht klar voneinander abgrenzen, wenn es um die Erforschung der Tiefsee geht.

Ein Tier wurde in den letzten beiden Jahrhunderten zum Symbol für alles Unbekannte der Meere: der Riesenkalmar. Er ist das größte wirbellose Tier auf der Erde, mit Tentakeln so lang wie ein Bus und Augen so groß wie der Kopf eines Menschen. Die Existenz dieser Spezies ist mittlerweile belegt, aber vieles bleibt nebulös, so dass sie noch immer wie ein Mythos erscheint.

Beginnen wir doch in der Mark Brandenburg mit einer Annäherung an diese wundersame Kreatur:

Im Teltower Kreisblatt – von der Staatsbibliothek zu Berlin im Projekt „Digitalisierung der Amtspresse Preußens“ online gestellt – findet sich am 24. Dezember 1888 ein mysteriöser Eintrag. Unter der Überschrift „Kampf mit einem Seeungeheuer“ heißt es:

 

Kampf mit dem Seeungeheuer

In Wellington (Neuseeland) hatte ein Taucher den Auftrag erhalten, im Hafen einige Blöcke neben den Brückenpfeilern unterm Wasser zu befestigen. Der Taucher Mc. Govan ging in seinem Kautschukanzug hinunter und wurde, wie die „Frankf. Ztg.“ mittheilt, mitten in der Arbeit von einem riesigen Polypen ergriffen, dessen Saugwarzen sich zu gleicher Zeit auf seinem Rücken und am Gebälke des Pfeilers festsetzten. Mc. Govan machte zuerst verzweifelte Anstrengungen, sich loszuarbeiten. Je mehr er aber kämpfte, umso fester packte ihn das Seeungeheuer an. Schließlich stellte der Taucher das Kämpfen ein und bemerkte zu seiner Befriedigung nach einigen Minuten, daß die Beine des Polypen sich von dem Pfeiler losgelöst hatten. In diesem Augenblick gab er das Zeichen zum Herausziehen und der Taucher wurde mit dem Ungeheuer auf dem Rücken in die Höhe gezogen. Die Extremitäten des Seethieres waren neun Fuß lang.
(Teltower Kreisblatt, 24.12.1888, S. 832)

 

Die kurze Nachricht aus der Rubrik Vermischtes passt in die damalige Zeit und fällt gleichzeitig aus der Reihe. Aberglaube und Moderne treffen hier aufeinander. Als Seeungeheuer, Polyp und Seethier wird die Kreatur bezeichnet, die den Taucher, heute würden wir vermutlich Industrietaucher sagen, in seinem modernen Kautschukanzug angegriffen hatte.

Die Zeitung unterschlug jedoch, dass das Seeungeheuer bereits mehr als 30 Jahre zuvor den Übergang vom Reich der Sagen in die wissenschaftliche Literatur vollzogen hatte. 1854 zeigte der dänische Zoologe Japetus Steenstrup in einer Vorlesung seiner verblüfften Zuhörerschaft den Kiefer eines Riesenkalmars und gab dem dazugehörigen Tier den schön wissenschaftlich klingenden Namen Architeuthis (herrschender Kalmar). Andere Wissenschaftler bezweifelten Steenstrups Ausführungen zunächst, bis 1873 ein Fischer vor Neufundland eine Begegnung mit einem lebenden Riesenkalmar hatte, die damit endete, dass der Fischer dem Kalmar mit einer Axt einen sechs Meter langen Tentakel abschlug. An Land gebracht wurde der Tentakel im Museum ausgestellt und überzeugte so auch die letzten Skeptiker von der Existenz des Riesenkalmars.

A giant squid washed ashore on the Newfoundland coast in 1877: wood engraving from a contemporary American newspaper. Quelle: Britannica ImageQuest, The Granger Collection, Universal Images Group

A giant squid washed ashore on the Newfoundland coast in 1877: wood engraving from a contemporary American newspaper. Quelle: Britannica ImageQuest. Copyright: The Granger Collection, Universal Images Group

 

In den 1870er und 1880er Jahren gab es einen regelrechten wissenschaftlichen Hype um Riesenkalmare, was durch zahlreiche Funde bestärkt wurde. Vor Neuseeland wurden innerhalb einiger Jahre 50-60 Architeuthis an Land gespült oder leblos auf dem Wasser dümpelnd entdeckt. Richard Ellis vermutet, dass noch ungeklärte klimatische Veränderungen der Grund für dieses Phänomen waren. Zeitgenössische Wissenschaftler wie der amerikanische Zoologe Emery Verrill oder der Neuseeländer Thomas William Kirk stürzten sich auf jeden aufgefundenen Riesenkalmar und publizierten ihre Erkenntnisse in Dutzenden von Artikeln. (Nachzulesen in Monsters of the Sea von Richard Ellis)

Möglicherweise waren nicht allein die aufgespürten Körper der toten Kalmare Auslöser für das gesteigerte Interesse. In erfolgreichen Romanen der Zeit – wie in Herman Melvilles Moby Dick  (1851) oder Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer (1870) – griffen Riesenkalmare (oder Kraken wie sie fälschlicherweise bezeichnet wurden) Menschen und Schiffe an. Das Zusammenspiel moderner Wissenschaft, populärer Romane und alter Legenden gipfelte Mitte des 19. Jahrhunderts in eine allgemeine Begeisterung für die Tiere.

Dass die oben zitierte Nachricht aus dem Teltower Kreisblatt mit keiner Silbe auf eine mögliche rational-wissenschaftliche Erklärung des Seeungeheuerangriffs eingeht, ist auffällig. (Umgekehrt fand der Angriff im Hafen übrigens auch keinen Eingang in die wissenschaftliche Architeuthis-Literatur.) Aber vielleicht es nicht einer reißerischen Story, sondern journalistischer Gründlichkeit geschuldet, dass die genaue Einordnung des Tieres im Ungefähren bleibt. Schließlich wusste man nicht allzu viel über Riesenkalmare, da sie immer nur tot geborgen werden konnten. Der Blick in die Tiefsee war verschlossen, kein Teleskop konnte in den Abgrund schauen, niemand hinabtauchen.

Das änderte sich im 20. Jahrhundert, als Ozeanologen mit U-Booten die Tiefsee erreichten. Im Jahr 1960 tauchten Jacques Piccard und Don Walsh zum tiefsten Punkt der Meere. Der Kalte Krieg lenkte die Ressourcen jedoch verstärkt auf militärisch verwertbare Entdeckungsreisen, so dass Weltraum und Raketen die Tiefsee ausstachen.

Erst in den 1990er Jahren wurde die Tiefsee wieder verstärkt in den Fokus genommen, indem in Wellington, Neuseeland [sic!] 1992 das National Institute of Water and Atmospheric Research gegründet wurde, das sich unter anderem der Erforschung der Riesenkalmare zuwandte. Einer der dort arbeitenden Wissenschaftler war der Ozeanologe Steve O’Shea. Seine obsessive Jagd nach dem Riesenkalmar wurde in einer faszinierenden Reportage im New Yorker verewigt – man kommt kaum umhin, in ihm den Wahn von Kapitän Ahab wiederzuerkennen.

Wellington, New Zealand: Giant Squid on display on the Wellington dockside, caught off the coast of New Zealand. Quelle: Britannica ImageQuets, Barry Durrant, Getty Images

Wellington, New Zealand: Giant Squid on display on the Wellington dockside, caught off the coast of New Zealand. Quelle: Britannica ImageQuest. Copyright: Barry Durrant, Getty Images

2004 gelangen zum ersten Mal Fotoaufnahmen eines lebenden Riesenkalmars, 2012 konnte er in seiner natürlichen Umgebung gefilmt werden. Langsam nähern wir uns dem Ende eines Mythos. Aber noch ist vieles, was wir über Riesenkalmare vermuten – wie sie jagen oder wie sie sich fortpflanzen – aus anatomischen Merkmalen und nicht aus Beobachtungen abgeleitet.

Eine Auswahl von Literatur aus der Staatsbibliothek zu Berlin zu diesem Thema:

Seeungeheuer:

Tiefseeforschung:

 

Vorschau: Im nächsten Beitrag nehmen wir Kurs auf die Philologien – freuen Sie sich auf ozeanische Erkundungen in den Weiten der Literatur!

 

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