Der goldene Käfig. Prächtiges Federvieh von Carll Cneut
Ein Rückblick auf die Ausstellung vom 7. bis 17. September sowie den Gesprächsabend am 13. September 2016
Der Besuch des vielfach ausgezeichneten flämischen Illustrators Carll Cneut und seiner Werke, insbesondere zu dem Bilderbuch „Der goldene Käfig“, sorgten im „goldenen Bücherschiff“ am Potsdamer Platz für zahlreiche erfreuliche Überraschungen.
Es begann mit der Zusendung der Originalillustrationen für die Ausstellung im Foyer. Die Auswahl des Künstlers war sehr großzügig. Und da Carll Cneut seine Buchillustrationen nicht als eine Sammlung von Gebrauchsgrafiken, sondern jede einzelne als individuelles Kunstwerk versteht, ging jedes Bild in seinem in Stil und Farbe individuellen Rahmen auf die Reise. Um allerdings möglichst viele von ihnen in den Vitrinen im Foyer zeigen zu können, mussten einige Werke vorsichtig ausgerahmt werden.
Diese wurden tagsüber, da es sich um eine Veranstaltung in Kooperation mit dem internationalen literaturfestival berlin (ilb) handelte, von einigen Volontärinnen des ilb beaufsichtigt. Sehr freundlich und mit großem Enthusiasmus gingen sie auf die Besucher zu und informierten über die Ausstellung – ein Luxus, den wir uns sonst leider nicht leisten können.
Am Abend des 13. September blieb der Dietrich-Bonhoeffer-Saal zunächst denn auch erstaunlich leer. Die Besucher des Gesprächsabends mit Carll Cneut standen im Foyer, erfreuten sich an der Ausstellung und vertieften sich ins Gespräch. Die opulenten Bilder des „bibliophilen Gesamtkunstwerks“, wie Carola Pohlmann, Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung, kurz darauf vor den gut gefüllten Reihen des Vortragssaals aus der Jurybegründung für die Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis zitierte, hatte alle in den Bann gezogen.
Dieser Sog verstärkte sich noch, als Carll Cneut – auf Flämisch – und Carola Pohlmann – auf Deutsch – die ersten Seiten des Bilderbuchs zur entsprechenden Beamer-Präsentation vorlasen. (Der Künstler wäre auch ein hervorragender Hörbuchsprecher!)
Nur ungern kehrte man, gerade nachdem die Erzählung sich dem Höhepunkt der Spannungskurve näherte, in die Realität zurück, wurde jedoch gleich in der Folge von den bunten Lebensgeschichten Carll Cneuts, genial übersetzt von Rosalie Förster, mitgerissen. Ein Künstler, der als Kind vor allem Märchenbücher liebte, die er sich mit Sammelpunkten zusammensparte. Dessen Liebe zu Spaghetti schließlich zur frühen künstlerischen Prägung durch Kunstdrucke James Ensors führte, eine Sammelpunkt-Werbeaktion der Nudelfirma Soubry. Ein Illustrator, der nie Illustrator werden wollte und schon an der Hochschule, dem Sint-Lucas-Institut in Gent, regelmäßig durch die entsprechenden Fachprüfungen fiel. Ein begeisterter Werbegraphiker, der als Berufsanfänger mit Vorliebe Tiefkühlnahrung für den russischen Markt bewarb. Spezialität: Primavera – Frühlingssalat.
Am Einstieg in die Illustration waren eine verzweifelte Nachbarin und ein weißer Fleck in dem von ihr betreuten Magazin „Flair“ schuld. Nach einiger Überredung füllte Cneut die leere Stelle mit einer Illustration. Das Prozedere wiederholte sich gleich in der nächsten Woche – und in der übernächsten. Es stellte sich heraus, dass der eigentlich zuständige Illustrator sich das Handgelenk gebrochen hatte. Nach drei Wochen lud der Herausgeber der „Flair“ Carll Cneut nach Antwerpen ein. Er warf ihm angesichts seiner realistischen Darstellungsweise von Frauenfiguren (groß/klein, dick/dünn) Frauenfeindlichkeit vor und verbat sich jegliche weitere Mitarbeit. Am nächsten Tag, als hätte das Schicksal diese ungerechtfertigte Kritik und das undankbare Verhalten strafen wollen, war er tot. „Ein Herzinfarkt beim Fahrradfahren, hätte jederzeit passieren können“, beteuerte Cneut, dessen Illustratorenkarriere damit zunächst einmal beendet war.
Ein weiterer Zufall bescherte ihm dann die erste Zusammenarbeit mit Geert de Kockere, zu dem Zeitpunkt bereits ein bekannter belgischer Kinderbuchautor und –lyriker. Bei der Besprechung einer neuen Werbekampagne war Cneut eine alte Illustration aus der Mappe gerutscht, die er seinerzeit für die „Flair“ gezeichnet hatte. Die Marketingspezialistin vermittelte ihn daraufhin an ihren Bruder, der Kinderbücher verlegte. Allerdings stießen die ersten beiden Illustrationen, die Cneut für Gedichte de Kockeres anfertigte, nicht auf die Gegenliebe des Lyrikers. Er beschwerte sich jeweils prompt per Fax, obgleich sich Cneut Mühe gegeben hatte, lustige Gesichter zu zeichnen, wie er sie für ein junges Publikum für passend hielt. Dem Künstler wurde eine dritte und definitiv letzte Chance eingeräumt. Diese nutzte er, indem er zwei Varianten einreichte: eine, von der er vermutete, dass man sie in dieser Form für Kinder erwarten würde, und eine, die er so gestaltete, wie es ihm persönlich am besten gefiel. De Kockere meldete sich wiederum postwendend per Fax. Er freute sich über die zweite Variante und schlug die Zusammenarbeit für ein Kinderbuch vor.
Inzwischen illustriert Carll Cneut seit zwei Jahrzehnten höchst erfolgreich vornehmlich Kinderbücher. Dabei hat sich eine relativ feste Vorgehensweise etabliert:
Der Illustrator liest zunächst den Text. Dabei ist es ihm wichtig, dass er den Autor oder die Autorin kennt und mag und dass die Urheber des Textes ihm vertrauen und ihr Werk „loslassen“ können. Schließlich übernimmt Cneut auch die Aufteilung des Textes und entscheidet über graphische Hervorhebungen.
Danach müssen die Ideen reifen. Das könne mehrere Monate, ein Jahr – oder auch mal fünf Jahre dauern, schmunzelte Cneut. Er beginne dann herumzuprobieren, und an dem Punkt packe ihn immer wieder die Panik, nicht rechtzeitig fertigzuwerden. Innerhalb von drei bis vier Monaten fertigt er die Skizzen sehr exakt und präzise mit Bleistift an. Letztlich entsteht ein Dummy des zukünftigen Buches.
Der Illustrator zeigt dem Autor die Skizzen, für den Fall, dass es massive Einwände geben sollte. Allerdings, überlegte Cneut, komme das eigentlich nie vor. Er habe sich von Anfang an eine sehr eigenständige Arbeitsweise angewöhnt.
Auf der Grundlage dieser Skizzen fertigt er anschließend die eigentlichen Illustrationen auf dickem Zeichenpapier („Steinbach, 300g!“) an. Lage für Lage arbeitet sich Cneut von den dunkleren zu den helleren Farben vor. Auch die handschriftlichen Passagen des Textes gehören dazu, auch für die Textfassungen von Übersetzungen, sofern es sich nicht um eine spanische oder polnische Ausgabe handelt. Das sei ihm dann doch zu kompliziert.
Wenn der Künstler im Verlauf des Entstehungsprozesses einen Punkt erreicht, an dem er selbst einigermaßen zufrieden ist, ruft er seine Verlegerin an. Diese wohnt nur 200 Meter entfernt. Sie weiß, dass eine solche Einladung, eben einmal gucken zu kommen, ihre einzige Chance sein wird, vor der Fertigstellung des Buches etwas zu sehen zu bekommen. Das weitere Ritual, das sich in stillschweigendem Einverständnis in den letzten zwanzig Jahren herausgebildet hat, sieht vor, dass sie lobt: „Das ist SEHR schön!“ – und er dann beflügelt weitermalt. Schließlich schickt er seine Gemälde an den Verlag. Dort werden sie gescannt, eine weitere Bearbeitung findet danach nicht mehr statt.
An dem Bilderbuch „Der goldene Käfig“ arbeitete Carll Cneut ein Jahr und vier Monate. Das Buch wurde 2015 mit dem flämischen Culturrprijs voor de Letteren ausgezeichnet („Den Preis bekommen sonst nur große Romanautoren. Ich hielt den Anruf also zunächst für einen Scherz und legte wieder auf.“), und es befindet sich aktuell auf der Liste der Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016. Dass ein solcher Titel, der sich mit einem schwierigen, dunklen Thema der Kindheit (Grausamkeit eines vernachlässigten Kindes) beschäftigt, zuerst von einem flämischen Verlag herausgebracht wurde, ist nicht ungewöhnlich. Flandern umfasst zwar ein recht kleines Sprachgebiet, durch eine intensive staatliche Förderung von Buchprojekten sind jedoch auch wirtschaftlich riskantere Verlagsaktivitäten möglich. Insofern verfügt Flandern, wie u.a. auch Schweden, über ein sehr vielfältiges Kinder- und Jugendliteraturangebot. Deutsche Verlage übernehmen häufig solche innovativen Bücher aus skandinavischen Ländern, bzw. aus Belgien und den Niederlanden in ihre Programme.
Die Frage aus dem Publikum, warum denn in „Der goldene Käfig“ nur Gelb-, Rot- und Orangetöne sowie Schwarz und Weiß vorherrschen, aber z.B. kein Blau, parierte Cneut spontan flämisch: „Ik heb mijn gele fase!“ Tatsächlich, erläuterte er anschließend, habe jede Geschichte für ihn eine Hauptfarbe, um die er dann alles andere herumgruppiere.
Eine weitere Publikumsfrage verdeutlichte die Begeisterung für Cneuts Illustrationen quer durch alle Altersschichten: „Gibt es schon jemanden, der eine Ihrer Illustrationen als Tattoo trägt?“ Carll Cneut lachte: „Ja, und ich sollte es sogar selber stechen!“ Das habe er dann aber doch abgelehnt, sowohl für den gewünschten Totenschädel als auch für den Vogel.
Die Pläne für die nächsten Jahre sind vielfältig und anspruchsvoll. Für 2017 hat Carll Cneut einer Galerie eine Ausstellung freier Arbeiten versprochen. (Eine Ausstellung von Illustrationen begeisterte in Flandern jüngst 50.000 Besucher, gerechnet hatte der Künstler mit „vielleicht 5.000“. Tatsächlich zählte aber rein rechnerisch fast jeder hundertste Einwohner Flanderns zu den Besuchern!) Außerdem will Cneut bis 2021 sämtliche Märchen der Brüder Grimm und Andersens illustrieren! Dazu soll eine große Ausstellung stattfinden. Alle diese Vorhaben sind bereits vertraglich festgehalten und verursachen bei den Rezipienten bereits große Vorfreude, beim Künstler selbst jedoch immer wieder Panikanflüge unterschiedlicher Intensität. Eins steht für Carll Cneut jedoch unverrückbar fest: Das Buch mit seinen Bildern muss seine Leser finden, nicht umgekehrt. Auf die Frage, ob er je noch einmal etwas speziell für Kinder illustrieren wolle, lautete die Antwort: „Nein, das letzte Mal gab’s ja immerhin einen Toten!“
Am Ende dieses ebenso informativen wie unterhaltsamen Abends bleibt zu hoffen, dass es sich um den Auftakt zu einer langen Reihe gemeinsamer Veranstaltungen der Staatsbibliothek mit dem ilb gehandelt haben möge; eine Absicht, die bereits eingangs von Christoph Rieger, dem Programmleiter Internationale Kinder- und Jugendliteratur des ilb, als auch von Carola Pohlmann formuliert wurde.
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