Künstliche Intelligenz avant la lettre? – Automaten in der Frühen Neuzeit

Ein Beitrag aus unserer Reihe Künstliche Intelligenz zum Wissenschaftsjahr 2019

Wie die immer zahlreicheren und nicht selten in ehemaligen Apotheken, Laboratorien und Werkstätten eingerichteten Concept Stores mit ihren kuratierten, unterschiedlichste Produktgruppen vereinigenden Sortimenten dokumentieren, erweist sich das frühneuzeitliche Konzept der Kunst- und Wunderkammer als überraschend zeitgemäß. Aber womöglich hält sich die Verblüffung bei genauerem Hinsehen ja auch in Grenzen?

Zwar mag im globalisierten Informationszeitalter der von den meist fürstlichen Sammlern in Renaissance und Barock unternommene Versuch, den Makrokosmos im Mikrokosmos ihrer Kunst- und Wunderkammer abzubilden, die Welt – um einen pointierten Buchtitel zu zitieren – gewissermaßen in die Stube zu holen, zwangsläufig an seine Grenzen stoßen. Unter Modernisierungsaspekt erscheinen jedoch die zeitgenössischen kommerziellen Wiedergänger dieses frühneuzeitlichen Konzepts durchaus als folgerichtig, hat doch spätestens Horst Bredekamp in seiner vielzitierten Studie Antikensehnsucht und Maschinenglauben gezeigt, dass der nur scheinbar kuriose Mix aus Artificialia, Naturalia, Scientifica, Exotica und Mirabilia vielmehr eine Entwicklungsgeschichte repräsentiert, die von der Naturform über Antiken und andere Kunstwerke bis zum Automaten führt. Überwogen in den Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts noch eher schlichte Maschinenobjekte, so nahm sich das Bild im Folgejahrhundert, in dem die Automatenbaukunst eine erste Hochzeit erlebte, schon anders aus. Konkret war etwa – um nur zwei vergleichsweise frühe Beispiele herauszugreifen – ein aufziehbares Modell einer fahrenden venezianischen Gondel in der von Erzherzog Ferdinand II. von Tirol (1529 – 1595) auf Schloss Ambras eingerichteten Kunst- und Wunderkammer zu sehen, während in ihrem von Kurfürst Joachim II. von Brandenburg (1505 – 1571) gegründeten Berliner Pendant eine Trinkspiel-Automat gewordene Diana auf dem Hirsch umherrollend ihre berauschende Wirkung entfaltete. Die Rekonstruktion der Sammlungen der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer, des Nukleus der Berliner Museumslandschaft, ist aktuell übrigens Ziel eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten gemeinsamen Projektvorhabens von Humboldt-Universität zu Berlin, Museum für Naturkunde Berlin und Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Wie angemessen es ist, zumal vor dieser Kontrastfolie von einer Hochblüte der Automatenbaukunst im 18. Jahrhundert zu sprechen, macht das Werk Jacques de Vaucansons augenfällig – allen voran seine Vitalfunktionen nachahmende mechanische Ente, ein Canard Artificiel, mangeant, beuvant, digerant & se vuidant […] imitant en diverses manières un canard vivant. An ihre Seite gesellten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die Androiden-Automaten der Schweizer Uhrmacher Pierre und Henri-Louis Jaquet-Droz – Organistin, Zeichner und Schreiber –, die auf der Grundlage eines Nockenscheibenmechanismus über die Funktion verfügten, Noten-, Bild- und Textvorlagen akustisch bzw. graphisch zu reproduzieren.

Freilich sollte im Aufklärungsjahrhundert die Automatenbaukunst keineswegs darauf beschränkt bleiben, Lebewesen – im Wortsinn! – möglichst lebendig zu imitieren, denn im Gefolge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts brach sich schließlich auch ein geradezu protokybernetischer gesellschaftlicher Steuerungsoptimismus Bahn. Besonders prominent steht für diesen Befund das 1759 publizierte und von der Mechanik der Kugeluhr inspirierte Tableau œconomique des Physiokraten François Quesnay, das als erstes makroökonomisches Multiplikatormodell zur Analyse gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge gilt.

Von Quesnays (Selbst)Steuerungseuphorie war es denn auch nur noch ein kleiner Schritt zur Entwicklung eines auf Basis eigener Entscheidungen autonom agierenden Automaten: Mit dem 1769 in Wien vorgestellten Schachandroiden des kaiserlichen Hofkammerrats Wolfgang von Kempelen – von ihm ganz orientalistisch als Schachtürke bezeichnet und entsprechend ausstaffiert – war der Urahn aller Künstlichen Intelligenzen und KI-Systeme in der Welt; zumindest scheinbar. Denn von Kempelens Schachautomat war eine Mystifikation, eine Illusionsmaschinerie, in der – hinter den Zahnrädern eines dem Publikum ostentativ präsentierten Uhrwerks verborgen – ein Mensch die Spielzüge steuerte.

Ungeachtet seiner spätestens von Edgar Allan Poe vollzogenen Entzauberung hat der Schachtürke bis heute allerdings nur wenig an Faszination verloren. Vom kaum zu widerstehenden Reiz, einen Bogen vom Schachtürken zu AlphaZero und anderen KI-Systemen zu schlagen, zeugt jedenfalls nicht nur die schier uferlose Forschungsliteratur, sondern bereits auch dessen Aufnahme in die Dauerausstellung des Paderborner Computermuseums Heinz Nixdorf MuseumsForum.

Dabei dürfte sich die anhaltende Fortune des Schachtürken vor allem aus seiner Eignung als Projektionsfläche zur Verhandlung des schon 1748 von Julien Offray de La Mettrie in seiner Schrift L’homme machine ausgemessenen (Spannungs)Verhältnisses von Mensch und Maschine erklären: Als allzu menschlich und daher besonders beeindruckend erscheint der Schachtürke etwa in der fatalistischen Schilderung Karl Gottlieb von Windischs, eines Zeitgenossen von Kempelens: Die Erscheinung dieser mechanischen Figur, die mit einem denkenden beseelten Wesen das schwerste aller Spiele spielt, sich seinem belebten Gegner gleich bewegt, von dessen Willen und Spiel abhängt, gleich ihm oft gewinnt, oft verliert, kurz der kühnste Gedanke eines Mechanikers, das Meisterstück der Schöpfung in einem beweglichen Bilde nachzuahmen, war zu auffallend, um nicht die größte Aufmerksamkeit zu erregen. Eben diesen sympathisch menschlichen Zug des Androiden, gerade nicht jedes Spiel zu gewinnen, führte dagegen Edgar Allan Poe als Argument dafür an, den nach von Kempelens Tod von Johann Nepomuk Mälzel weiter betriebenen Schachtürken als Schwindel zu demaskieren: The Automaton does not invariably win the game. Were the machine a pure machine this would not be the case – it would always win.

Während der Schachtürke in Moxon’s Master, einer 1899 erschienenen Kurzgeschichte des amerikanischen Autors Ambrose Bierce, sein mörderisches Unwesen treiben sollte, dokumentiert der Crowdworking-Marktplatz Mechanical Turk, dass der von Wolfgang von Kempelen geschaffene Androide im 21. Jahrhundert als Metapher für das Hierarchieverhältnis zwischen Mensch und Maschine vollends unscharf geworden ist: Diese Online-Plattform dient nämlich dazu, definierte Aufgabenpakete zu einem festen Betrag den so genannten Turkers zur Bearbeitung anzubieten – nicht selten mit dem Ziel, Algorithmen des maschinellen Lernens durch die Tätigkeit dieser Menschen zu trainieren.

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Übrigens sind Automaten auch in Bibliotheken zu finden – und keineswegs nur Getränkeautomaten: So besitzt etwa die Staatsbibliothek zu Berlin eine herausragende Kollektion historischer Spielbilderbücher, deren charakteristische, von papiermechanischen Gestaltungselementen wie Ziehlaschen und Drehscheiben bestimmte Materialität zur Interaktion einlädt. Neben dem von Lothar Meggendorfer – dem Star der internationalen Bewegungsbuchszene des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – gestalteten Ziehbilderbuch Lustiges Automaten-Theater ist als besonders spektakuläre Erscheinungsform dieser von nur wenigen Bibliotheken und Museen systematisch gesammelten Mediengattung das in zahlreichen Auflagen erschienene Sprechende Bilderbuch mit naturgetreuen Menschen- und Tierstimmen zu erwähnen. Die Funktionsweise dieser Unterhaltung für die kleine Welt in Bild, Vers und Laut – so der Untertitel des an die ebenfalls von Wolfgang von Kempelen konstruierte Sprechmaschine erinnernden Spielbilderbuchs – ist in dem 1878 dem Sonneberger Buchhändler Theodor Brand erteilten Patent beschrieben:

„Das sprechende Bilderbuch besteht aus einem viereckigen flachen Kasten (größtes Format 32:25 cm), in dessen Innerem mechanische Stimmen derartig angebracht sind, dass eine jede derselben vermittels je einer besonderen Schnur, welche durch eine kleine Öffnung der Wandung rechts geht, von außen durch Ziehen in Bewegung gesetzt und zum Tönen gebracht werden kann. Auf der oberen flachen Seite des Kastens ist ein Bilderbuch derart angebracht, dass dasselbe mit dem Kasten als ein Ganzes erscheint. Durch den nachgeahmten Rücken und Schnitt der Seitenwände erhält dasselbe äußerlich das Ansehen eines starken Buches. Während das Kind in dem zuoberst angehefteten Bilderbuche blättert, beschaut und liest, zieht es an den verschiedenen Schnüren und ergötzt sich an den ertönenden Stimmen.“

 

Weiterführende Literatur:

Marlen Jank: Der homme machine des 21. Jahrhunderts: von lebendigen Maschinen im 18. Jahrhundert zur humanoiden Robotik der Gegenwart, Paderborn 2014.

Bernhard Serexhe/Peter Weibel (Hg.): Wolfgang von Kempelen: Mensch-(in der)-Maschine, Berlin 2007.

Tom Standage: The Turk: The Life and Times of the Famous 19th Century Chess-Playing Machine, New York 2002.

Elly Rachel Truitt: Medieval Robots: Mechanism, Magic, Nature, and Art, Philadelphia 2015.

 

Vorschau: Im nächsten Beitrag führen wir ein Interview mit einem Wirtschaftsinformatiker zum Thema „Künstliche Intelligenz, Robotik und Maschinenethik“.

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