Der Elefant in der Orgelstimme
Die eigenhändigen Quellen großer Meisterwerke der Musikgeschichte üben seit jeher einen besonderen Reiz auf Musiker*innen und Musikliebhaber*innen aus, verraten sie doch häufig Details der Arbeitsweise ihrer Komponisten und der Entstehungsgeschichte der betreffenden Kompositionen. Aber auch ganz gewöhnliche „Gebrauchsmusikalien“, die nicht von der Aura eines unsterblichen Meisters umweht sind, gewähren bisweilen interessante Einblicke in das Musikeben ihrer Zeit.
Die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin konnte vor kurzem auf dem Antiquariatsmarkt einen handschriftlichen Stimmensatz mit 48 Marien-Antiphonen – je zwölf Vertonungen des „Alma redemptoris“, des „Ave regina“, des „Regina coeli“ und des „Salve regina“ – für Solostimmen, Chor, zwei Violinen und Basso continuo erwerben, als deren Autor ein gewisser „W. A. P. N. Sojowsky“ firmiert. Leider ist die Stimme der ersten Violine nicht erhalten; gleichwohl ist zu erkennen, dass es sich um knappe, in der Ausführung nicht allzu schwierige Vertonungen der liturgischen Texte handelt, die ausweislich des Titelblattes für den gottesdienstlichen Gebrauch der Kathedrale St. Stephan im böhmischen Leitmeritz (heute Litoměřice) bestimmt waren.
Über den Komponisten der Werke war bislang so gut wie nichts bekannt – nachweisbar ist lediglich ein Eintrag im „Allgemeinen historischen Künstler-Lexikon für Böhmen und zum Theil auch Mähren und Schlesien“ aus dem Jahr 1815, demzufolge ein Wenzel Sojowski um 1756 als Komponist und Organist an der Leitmeritzer Kathedrale tätig war. Die neu erworbenen Stimmen erweitern diese Informationen nun insofern, als in einem der Stimmbücher von einem späteren Nutzer vermerkt wurde, der Komponist sei am 15. Juni 1776 in Karlsbad verstorben („obiit in thermis Carolinis 15 Junii 1776“).
Angefertigt wurde der Stimmensatz von einem professionellen Notenkopisten, der an einigen Stellen in seinen Schluss-Schnörkel die Jahreszahl 1769 vermerkte. Auffällig ist, dass die handschriftlichen Stimmen nachträglich mit einem eigens gefertigten gedruckten Titelblatt versehen wurden. Vor allem in der Sopran- und der Altstimme – also jenen Stimmen, die seinerzeit in Kirchen- und Schulchören von Chorknaben ausgeführt wurden – finden sich schließlich zahlreiche Eintragungen, die belegen, dass die Stimmen offenbar bis in die 1840er Jahre regelmäßig im Gebrauch waren.
Zum einen dokumentieren Namenseintragungen und Jahreszahlen, wer wann die betreffende Stimme sang; zum anderen verweisen diverse weitere Notizen, Schreibversuche in griechischer Schrift und sogar ein paar Zeichnungen oder Karikaturen darauf, dass den jungen Choristen bei den Proben oder während der Gottesdienste bisweilen sehr langweilig gewesen sein muss. Ähnliches muss auch für einen Organisten gegolten haben, der auf dem Vorsatzblatt seiner Stimme eine männliche Person – vielleicht den Chorleiter – porträtierte und darüber gleich noch einen (nicht ganz gelungenen) Elefantenkopf mit Rüssel und großen Ohren skizzierte.
Das Werk des Wenzel Sojowski trägt im Übrigen den schönen, wenn auch (aus heutiger Sicht) grammatikalisch etwas ungewöhnlichen Titel „Immerwährendes Marianisches Lobgesang“ – und immerwährend scheint, so zeigen diese mittlerweile über 200 Jahre alten Stimmen, auch die Lust von Schülern, Studenten und Choristen zu sein, die ihnen anvertrauten Hefte mit allerlei Kritzeleien zu „verzieren“, sofern ihnen die Zeit zu lange wird.
Grammatisch zweifelhaft ist der Titel nur aus heutiger Sicht. Das Grimm’sche Wörterbuch gibt für „Gesang“ sowohl Neutrum als auch Masculinum als Genus an.
Sehr geehrter Herr Harer,
haben Sie vielen Dank für den Hinweis, ich habe den Text entsprechend angepasst.
Mit freundlichen Grüßen
Roland Schmidt-Hensel