Für die kleinen und großen Kinder der Welt

Zum 100. Geburtstag des famosen Kinder- und Jugendbuchautors Otfried Preußler zeigt das Stabi Kulturwerk die Ausstellung Der Mensch braucht Geschichten
Ein Beitrag von Irene Bazinger

Gibt es Gespenster? „Auf gar keinen Fall!,“ beteuern die vernünftigen Erwachsenen. „Vielleicht ja doch,“ denken die pfiffigen Kinder: Kann sein, dass man sie einfach nur nicht sieht! Am Unterschied in den Antworten ist durchaus zu erkennen, wer Das kleine Gespenst von Otfried Preußler gelesen hat und wer nicht. Es ist einer seiner Kinderbuch-Klassiker, erschienen erstmals 1966 und lässt besagten Burggeist – von harmlosem, freundlichem Wesen – ein paar unerwartete Abenteuer erleben und schließlich glücklich wieder in seinem angestammten Dachboden landen: „Hu-huiiiiii!“. Damit ist das Problem eindeutig gelöst: Natürlich gibt es Gespenster! Davon kann man sich nun auch im Kulturwerk der Staatsbibliothek Unter den Linden überzeugen, wo unter anderem die Existenz eines kleinen Wassermanns, einer kleinen Hexe und des Räubers Hotzenplotz beglaubigt werden. Sind denn Phantasiewesen nicht real existent? Treibt uns nicht Hamlet ins Theater und Carmen nicht in die Oper, obwohl wir sie bloß von der Bühne kennen? Der Mensch braucht Geschichten heißt die Ausstellung zum 100. Geburtstag von Otfried Preußler. Das könnte man als seine kreative Maxime bezeichnen: Geschichten hören, Geschichten erzählen, Geschichten schreiben. Er konnte das so gut wie kaum ein anderer. Über 50 Millionen Exemplare seiner Bücher wurden weltweit verkauft und in mehr als 50 Sprachen übersetzt. „Man muss sich das einmal vorstellen: Kinder in China sind seit Jahren von einem raubeinigen Räuber namens Hotzenplotz begeistert, der am liebsten Bratwurst mit Sauerkraut isst!“, sagt Carola Pohlmann, die Kuratorin dieser wunderbaren Ausstellung. Als langjährige Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek war sie mit ihrer Kollegin Jutta Weber aus der Handschriftenabteilung vor über zehn Jahren dafür verantwortlich, dass Otfried Preußler seinen Nachlass als großzügige Schenkung an die Staatsbibliothek zu Berlin zu übereignen versprach. Das lag nicht nur am hervorragenden Ruf der Institution, sondern, so Pohlmann, auch daran, dass sich hier im Hause der Nachlass Joseph von Eichendorffs befindet, dem sich Preußler lebenslang verbunden fühlte.

Hier ist mehr zu erfahren als in seinen Büchern steht

Dies und noch viel mehr ist jetzt über den berühmten Kinder- und Jugendbuchautor zu erfahren. In über 200 Exponaten werden Manuskripte und Typoskripte, Erstausgaben, Theater- und Hörspielbearbeitungen, Originalillustrationen und Briefe präsentiert. Die einzelnen Abschnitte sind seiner biografischen wie künstlerischen Entwicklung, der Rezeption und der Transformation in andere Medien gewidmet.

Entscheidend für diesen grandiosen Geschichtenerzähler ist seine Herkunft. Geboren wurde Otfried Preußler 1923 in Reichenberg/Liberec im heutigen Tschechien. Die Märchen und Sagen aus seiner böhmischen Heimat haben ihn tief beeindruckt und beständig begleitet. Er fing schon früh an, Geschichten und Gedichte zu schreiben, 1940/1941 dann den autobiographisch angelegten Jugendroman Erntelager Geyer, in dem sich die nationalsozialistische Ideologie spiegelt. Nach dem Abitur meldete er sich zur Wehrmacht, wurde Offizier und geriet 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

Illustrationen der dunklen Vergangenheit

In dem berühmten Jugendbuch Krabat (1971), an dem er mit Unterbrechungen zehn Jahre lang gearbeitet hatte, setzte er sich später kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander. „Mein Krabat“, erklärte Preußler, „ist die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Diesem Schlüsselwerk ist der letzte Raum der Ausstellung reserviert, der auch zeigt, wie stark es bis heute die Menschen anspricht. Sophie Meyerhoff hat sich damit in ihrer Masterarbeit im Rahmen der Klasse Illustration vergangenes Wintersemester an der Universität der Künste beschäftigt und den Roman in 27 Bildern mit weißer Kreide und schwarzer Kohle nacherzählt. Der zwölf Meter lange Leporello hängt nun mittig von der Decke. Mit ein paar Requisiten wird Krabat so fast zum begehbaren Objekt, worüber sich Carola Pohlmann riesig freut, die solche interdisziplinären Kooperationen mit anderen Institutionen stets gefördert hat.

Der richtige Klang und Geschichten gegen die Angst

Zu den bewegendsten Exponaten gehören die mit winziger Handschrift bedeckten Postkarten, die Preußler aus der Gefangenschaft an seine Mutter geschickt hatte, eine Suchanzeige, die seine Freundin Annelies nach dem 2. Weltkrieg aufgegeben hatte, um ihn zu finden, und kleine Notizbücher, in denen Mithäftlinge in den Lagern die Gedichte notierten, die sie einander vortrugen, um sich geistig wach zu halten. Dadurch wurden auch frühe Texte von Otfried Preußler überliefert.

Nach der Heimkehr 1949 ließ er sich mit Annelies nahe Rosenheim in Bayern nieder, wurde Volksschullehrer und schrieb unermüdlich weiter. Zu sehen ist in einer Vitrine sein Diktiergerät, das er allzeit bei sich hatte und dem er auf Spaziergängen oder auf dem Weg zur Schule neue Ideen und Textpassagen anvertraute. So fiel er Christine Annies auf, die mit ihrem Mann frisch in das Örtchen gezogen war und ihn wegen des Geräts und der verschwörerisch hineingesprochenen Sätze erst für einen russischen Spion hielt. 33 Jahre war sie dann seine Sekretärin, tippte die Diktate ab und half ihm bei der Erledigung seiner umfänglichen Korrespondenz. Um die 10.000 Briefe erreichten ihn allein von Kindern, die er alle möglichst schnell beantwortete. Ein paar davon sind auch in der Ausstellung zu bewundern und verdeutlichen die Faszination, die Preußler mit seinen Figuren bei den Absender:innen erweckt hatte.

Was macht den großen Erfolg von Otfried Preußlers Oeuvre aus? „Ich glaube, es ist sein Erzählton“, sagt Carola Pohlmann: „Er hat ja anfangs Theaterstücke verfasst und kommt also von der gesprochenen Sprache her. Dementsprechend hat er seine Werke nach dem Wort, dem Klang, dem Sound konzipiert. Das merkt man an den Typoskripten. Wenn es nicht um inhaltliche Dinge ging, hat er immer wieder dort etwas geändert, wo ihm der Klang nicht optimal erschien. Am schönsten sind Preußler-Bücher deshalb, wenn sie vorgelesen werden. Da gewinnen sie noch einmal eine zusätzliche Dimension. Und außerdem hat er sich tolle Geschichten ausgedacht, in denen er den Kindern die Angst vor Hexen, Gespenstern oder Räubern nimmt.“ Weil diese literarische Mischung in vielen, sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten überzeugt, ist sich Carola Pohlmann, die sich mit dieser spannenden Ausstellung in den Ruhestand verabschiedet, absolut sicher, „dass sie die Zeit überdauern, dass sie bleiben werden.“

 

Der Mensch braucht Geschichten
Otfried Preußler zum 100. Geburtstag
27.Oktober 2023 – 07. Januar 2024
Staatsbibliothek zu Berlin – Stabi Kulturwerk 
Unter den Linden 8
10117 Berlin
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr

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