Nicolavs Copernicus Mathematicus (Holzschnitt, in: Nikolaus Reusner, Icones, Straßburg 1587, S. 128)

Is there anybody out there? Über die (Nicht-)Existenz einer Forschungsrichtung

Ein Beitrag aus unserer Reihe Unser Universum zum Wissenschaftsjahr 2023

Gibt es außerirdische Zivilisationen? Wie könnte eine Begegnung mit ihnen aussehen? Und wie wäre das Zusammenleben im All denkbar? Fragen von fundamentaler Bedeutung, deren Beantwortung uns (noch) vor Schwierigkeiten stellt.

Bereits in der Antike finden sich in Plutarchs De facie in orbe lunae und Lukrez‘ De rerum natura erste Gedanken zur Existenz extraterrestrischen Lebens. Im Laufe der Jahrhunderte, vor allem nach der kopernikanischen Wende folgten zahlreiche Abhandlungen aus unterschiedlichen Disziplinen. Seit dem 19. Jahrhundert ist eine Popularisierung der Ideen zu beobachten. Zahlreiche Literatur- und später Filmbeispiele zeigen anschaulich wie anregend, zu welchen bildlichen und sprachlichen Vorstellungen und Gedankenexperimenten die Menschen in Bezug auf die Begegnung und das Zusammenleben mit extraterrestrischen Lebensformen, hier auf Erden, im Weltraum, auf fernen Planeten in der Lage sind.

Die Analyse sozialer Phänomene, die Deutung von Prozessen und Strukturen in der sozialen Interaktion sind die Domäne der Soziologie. Der Annahme folgend, dass außerirdisches intelligentes Leben theoretisch möglich ist, gab es ab Ende der 1960er Jahre zaghafte Versuche, die Forschungsrichtung der Astro- bzw. Exosoziologie zu etablieren. Früheste Zeugnisse der Begriffsverwendung finden sich bei Ross (1964): A Contribution to Astrosociology, bei Beck (1971): Extraterrestrial Intelligent Life und bei Kaplan (1971): Extraterrestrial Civilizations. Problems of Interstellar Communication. Diese Ansätze blieben skizzenhaft. Ersten Ideen zum Gegenstand und Forschungsparadigma folgten nur wenige weitere und lange Zeit herrschte im wörtlichen Sinne Funkstille. Die Verlaufsgeschichte der Astro- bzw. Exosoziologie konzentriert sich auch im Vergleich zu anderen sogenannten Bindestrichsoziologien auf wenige Institutionen und Publikationen. Pars pro toto sei hier das relativ junge Journal of Astrosociology erwähnt. In der Einführung zur ersten Ausgabe heißt es:
„It does not matter where people live, in space or on Earth, because astrosocial phenomena have become nearly ubiquitous in all of our daily social lives, even if we fail to recognize them.“
Trotz der hier erwähnten Allgegenwart astrosozialer Phänomene war der Zeitschrift ein irdisches Dasein beschieden, nach der zweiten Ausgabe war ihr Ende bereits erreicht.

Über die einschlägigen Suchmaschinen wie Google Scholar, BASE oder Dimensions finden sich wenige (Konferenz-)Beiträge, etwas Forschungsprogrammatisches wie etwa Mejers 1983 erschienener Artikel Towards an Exo-Sociogy: Constructs of the Alien, zuweilen ein Special Issue einer Zeitschrift, immer wiederkehrende Namen, insgesamt vermutlich der Anzahl der aktiven Raumfahrer:innen vergleichbar. Die Forschungscommunity blieb überschaubar, eine Institutionalisierung am Horizont nicht erkennbar.

Auch entsprechende Forschungsprojekte, aus denen eine neue Forschungsrichtung, neue Methoden, Begriffe und Modelle heraus entstehen, lassen sich in den Datenbanken großer Forschungsförderer wie DFG, EU oder NSF nicht finden. Allerdings mehren sich verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse zum Zusammenleben in sehr herausfordernden Umgebungen, sogenannten ICEs (Isolated, Confined, and Extreme), so etwa auch Studien während internationaler Langzeitmissionen zu den Raumstationen Mir und ISS.
Astrosoziologische Vertreter weiten das Erkenntnisinteresse auf Fragen des First Contact und dessen Folgen aus. Autoren des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) bzw. des Forschungsnetzwerkes Extraterrestrische Intelligenz weisen hier mittels einer sozialwissenschaftlichen Zukunftsforschung auf drei Kontaktszenarien hin:

Signalszenario: Bekannt durch die SETI-Forschung ab den 1960er Jahren, die mittels Radioteleskopen versucht, Signale extraterrestrischen Ursprungs einzufangen. Die Distanz zwischen Erde und Ursprungsquelle bestimme, so die Autoren, das öffentliche Interesse und die kulturellen Auswirkungen: je weiter entfernt, desto geringer die Relevanz. Mit geringen Implikationen für unseren Alltag sei zu rechnen.

Artefaktszenario: Die Begegnung mit Materialität außerirdischer Zivilisationen führe je nach Objektbeschaffenheit, Alter und Funktionsfähigkeit zu Implikationen von größerer Reichweite und längerer Dauer. Ökonomische und technologische Verwertbarkeit könnten die weitere Agenda der Weltraumaktivitäten bestimmen. Mit sozialpsychologischen und politischen Verwerfungen wäre zu rechnen, da eine etwaige Wiederkehr extraterrestrischer Lebensformen in unser Sonnensystem gesellschaftliche Strukturen und Ordnungen stark verunsichern würde.

Begegnungsszenario: Die direkte Begegnung mit einer außerirdischen Intelligenz wäre, ohne Kenntnis ihrer Absichten, Motive und Werte, für die soziale Interaktion von dramatischer Bedeutung. Soziologisch sei dieses Szenario als „radikale Form eines asymmetrischen Kulturkontakts“ anzusehen. Die passiven „Entdeckten“ – nach aller Wahrscheinlichkeit mangels der Fähigkeit, „viele Lichtjahre von der Erde entfernt unterwegs zu sein, um fremde Welten zu entdecken, unbekannte Lebensformen und neue Zivilisationen“, also wir – wären in ihrer kulturellen Identität und physischen Existenz erheblich bedroht.

Je weiter die Weltraumforschung vordringe, desto wahrscheinlicher wäre ein First Contact-Ereignis. „Uns als Weltgesellschaft darauf vorzubereiten, scheint dringend geboten.“
Ernstzunehmende Prognose und irgendwann Realität? Oder doch nur Fiktion? Vielleicht endet der erste Kontakt mit extraterrestrischen Lebensformen wie in Adam McKays „Don’t look up“ –  nähere soziologische Überlegungen entfielen somit.

In jüngster Zeit, hervorgerufen durch das Auffinden zahlreicher Exoplaneten und das Aufkommen der kommerziellen Raumfahrt, gewinnt die Thematik in der Öffentlichkeit weiter an Bedeutung. Als wünschenswertes Korrektiv zu den All(-machts-)phantasien und Besiedlungsutopien von Tech-Milliardären wie Bezos und Musk sind wiederum unterschiedliche Wissenschaftsrichtungen im Austausch darüber, ob und wie ein dauerhaftes Zusammenleben jenseits der Erde ausgestaltet werden könnte. Neuere Entdeckungen der Astrophysik und Astrobiologie lassen die Entstehung von Leben außerhalb unserer Welt möglich erscheinen. Die Astrosoziologie hat hier ungleich schwierigere Startbedingungen und wird wohl auf lange Zeit ein Nischenthema bleiben, andere Disziplinen dominieren bei der Weltraumforschung.

Trotz satirischer Reaktionen auf diese Bindestrichsoziologie, trotz fehlender Ressourcen und trotz der Unmöglichkeit der Verifikation der Hypothesen bleibt doch festzuhalten, dass namhafte Wissenschaftsverlage der Thematik einen, wenngleich kleinen Raum zugestehen, wohl auch als Reaktion auf die erwähnten Entdeckungen und Vorhaben.

Eine Auswahl an Literatur im sozial- und kulturwissenschaftlichen Umfeld der Astro- bzw. Exosoziologie aus dem Bestand der Staatsbibliothek sei zur Lektüre empfohlen:

Vorschau: Sie fragen sich, was genau mit der kopernikanischen Wende im zweiten Absatz gemeint ist? Dann können Sie sich schon jetzt auf den kommenden Beitrag freuen, der die hier angedeutete revolutionäre Schrift von Kopernikus thematisiert!

0 Kommentare

Ihr Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.