Optimale Formen in Geometrie und Natur und die historischen Anfänge der Variationsrechnung

Ein Beitrag aus unserer Reihe Unser Universum zum Wissenschaftsjahr 2023

„Da aber die Gestalt des ganzen Universums höchst vollkommen ist, entworfen vom weisesten Schöpfer, so geschieht in der Welt nichts, ohne dass sich irgendwie eine Maximums- oder Minimumsregel zeigt.“

Der größte Mathematiker des 18. Jahrhunderts, Leonard Euler, war davon überzeugt, dass hinter jedem Phänomen unseres Universums eine Maximum- oder Minimumregel stecken müsse. Dieses Ergebnis erschien in einem Anhang (Additamentum I de curvis elaticis ) zu seiner Methodus Inveniendi Lineas Curvas Maximi Minimive (1744, E065)).

Damit schuf er die Variationsrechnung als mathematische Disziplin. Dieses Werk war das erste Lehrbuch der Variationsrechnung und gilt als eines der schönsten und berühmtesten Bücher in der Geschichte der Mathematik. Constantin Carathéodory (1873-1950) bezeichnete die Eulersche Variationsrechnung als „eines der schönsten Mathematischen Werke, das je geschrieben worden ist“. [1]

Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes, sive Solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti. Leonhard Euler. Lausannae et Genevae: 1744. Bayerische Staatsbibliothek. NoC-NC 1.0

Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes, sive Solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti. Leonhard Euler. Lausannae et Genevae: 1744. Bayerische Staatsbibliothek. NoC-NC 1.0

Die Variationsrechnung ist ein mathematisches Gebiet, das sich mit Optimalformen der Geometrie und Natur befasst, oder anders gesagt, mit Maximal- und Minimalproblemen. Jeder von uns hat schon irgendwann im Alltag einmal ein Problem der Variationsrechnung zu lösen versucht. Planen wir eine längere Reise mit dem Auto, so überlegen wir uns die kürzeste oder die schnellste Route zu unserem Reiseziel. Die ersten Aufgaben geometrischen Inhalts, die mit dem Aufsuchen von kleinsten und größten Werten zusammenhängen, wurden im Altertum gestellt.

Die isoperimetrische Eigenschaft des Kreises (isoperimetrisch bedeutet im Griechischen von gleichem Umfang) wird im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erwähnt und fragt in seiner ursprünglichen Form, welche Form eine geschlossene Kurve mit gegebener Länge haben muss, damit diese Kurve die größte Fläche umspannt. Der Überlieferung zufolge durfte die phönizische Königin Dido bei der Gründung der Stadt Karthago mit einer Kuhhaut ein Stück Land für ihr Volk abstecken. Nachdem das Fell in dünne Streifen zerlegt war und diese Streifen zu einem Band zusammengenäht waren, stellte sich die Frage, welche geometrische Form das durch dieses Band berandete Territorium nun haben sollte, damit seine Fläche ein Maximum annimmt. [2]

Die Lösung ist ein (Halb-)kreis.

Kreis und Kugel gelten von alters her als die vollkommenen geometrischen Formen schlechthin. Die Griechen sahen in ihnen Symbole für die Ursymmetrie des Göttlichen. Warum schafft die Natur gerade diese Formen und zieht sie anderen, eben falls denkbaren Gestalten vor? Die Gestalt einer vollkommenen Kugel wirkt auf uns heute noch genauso anziehend wie auf die Griechen. Wir bewundern die perfekte Rundung einer schwebenden Seifenblase.

Das Bedürfnis, Extremalprobleme zu lösen, förderte die Entwicklung der mathematischen Analysis und der Variationsrechnung. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Variationsprinzipien in der Optik und Mechanik entdeckt, und die Variationsrechnung wurde zur Sprache der Naturwissenschaft. [3] Sie ist die mathematische Grundlage einer Theorie, die zur Zeit des Barock und Rokoko, also im ausgehenden 17. und im gesamten 18. Jahrhundert, entstand und die beansprucht, Form und Bewegung in unserer Welt zu erklären.

Drei weltberühmte Schweizer Mathematiker, die Gebrüder Jacob und Johann Bernoulli und Johanns Student Leonard Euler, alle aus der Stadt Basel, waren die Begründer dieser Disziplin. Wie lassen sich optimale Objekte mathematisch beschreiben? Und mit welcher mathematischen Technik kann man sie auffinden? Diese Fragestellung trieb sie um und ihre Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung und miteinander liest sich spannend wie ein Krimi!

Den kräftigsten Anstoß zur Entwicklung der Variationsrechnung gab Johann Bernoulli, als er im Jahr 1696 im Juniheft der Acta eruditorum das Brachystochronenproblem stellte und ein halbes Jahr später die „scharfsinnigsten Mathematiker des ganzen Erdkreises“ aufforderte, sich an der Lösung zu beteiligen. Die am 1.1.1667 in Groningen verfasste Ankündigung beginnt mit den Worten: „Die scharfsinnigsten Mathematiker des ganzen Erdkreises grüßt Johann Bernoulli, Professor der Mathematik.“ Diese Ankündigung ist ein einem überaus selbstbewussten Ton abgefasst. [4]

Am Schluss dieser Ankündigung findet sich die etwas boshaft klingende Bemerkung, die wohl nur für Eingeweihte verständlich sein mochte. Johann Bernoulli wurde nämlich durch Zufall ein Konzept seines Bruders Jakob bekannt, dem er entnahm, dass dieser einer falschen Vermutung nachgehe. Später hat aber auch Jakob die richtige Lösung gefunden und termingemäß an die Acta eruditorum eingesandt. An der Lösung der Aufgabe beteiligten sich unter anderem auch Leibniz und Newton. Newton gab allerdings nur die Lösung an und verschwieg seine Methode. Seine Einsendung erfolgte anonym – und doch erkannte Johann Bernoulli am Stil Newton als den Autor – „tanquam ex ungue leonem“: An der Klaue erkennt man den Löwen!

Die Vorstellung einer fundamentalen Ordnung des Universums und einer allesbeseelenden Harmonie, die sich in mathematisch fassbaren Gesetzmäßigkeiten widerspiegeln, geht, wie wir gesehen haben, bereits auf die alten Griechen zurück. Solche Ideen finden sich in Platons Phaidon und im Timaios; wie vielen Gelehrten in der Renaissance und im Zeitalter des Barock waren sie auch Leibniz wohlvertraut. Auch für Leibniz waren Minimum und Maximum gleichberechtigte Eigenschaften, ebenso bediente sich Maupertuis‘ etwas metaphysisch anmutendes Sparprinzip der Minimaleigenschaft als wesentlichem Aspekt. Dieses „Prinzip der kleinsten Wirkung“ von Maupertuis, welches besagt, dass die Natur für alle Veränderungen den jeweils kleinsten Aufwand bzw. die kleinste Wirkung wählt, um das Ziel der Veränderung zu erreichen, hätte aber nie die Rolle eines Universalgesetzes, fähig zu quantitativen Anwendungen, übernehmen können ohne die wesentlichen Fortschritte der Mathematik und der Entwicklung der Variationsrechnung. Sie bildet den festen Grund, auf dem Euler, Lagrange und der irische Mathematiker Hamilton das Wirkungsprinzip errichten konnten:

Da nämlich der Plan des Universums der vollkommenste ist … Deshalb kann kein Zweifel bestehen, daß alle Wirkungen in der Welt aus den Endursachen mit Hilfe der Methode der Maxima und Minima gleich gut bestimmt werden können wie aus den bewirkenden Ursachen.
(Leonhard Euler, zitiert nach I. Szabó, Geschichte der mechanischen Prinzipien, Basel 1977, S. 108)

 

 

[1] C. Carathéodory, Gesammelte Mathematische Schriften. Verlag C. H. Beck, München. Band V: 1957

[2] Für eine Darstellung des Problems der Dido sowie der hier geschilderten Ausführungen siehe das wunderbare Buch Kugel, Kreis und Seifenblasen : optimale Formen in Geometrie und Natur von Stefan Hildebrandt und Anthony Tromba.

[3] Für eine Darstellung der Grundprinzipien von Problemen mit Extremalcharakter vgl. Theorie der Extremalaufgaben von Ioffe/Tichomirov und Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen von István Szabó.
Einen sehr gelungenen Versuch, „Mathematik […] vor anderen („Nichtmathematikern“) so auszubreiten, daß sie einen Genuß davon haben“ findet man bei Hans Rademacher und Otto Toeplitz in ihrem Buch Von Zahlen und Figuren : Proben mathematischen Denkens für Liebhaber der Mathematik.

[4] Die deutsche Übersetzung findet sich in Ostwalds Klassikern, Bd. 46, Abhandlungen über die Variationsrechnung 1. Teil 1. Auflage 1894.
Der ganze „Krimi“ ist hervorragend dargestellt in Anhang I und II zu Paul Funks Variationsrechnung und ihre Anwendung in Physik und Technik.

 

Vorschau: Im nächsten Beitrag der Reihe „Unser Universum“ geht es über den Atlantik. Dann heißt es „Space is the Place“ und wir widmen uns den vielfachen Wegen, welche die Beschäftigung mit dem Universum in der US-amerikanischen Kultur genommen hat.

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