Geschafft! Über 9.000 seltene Drucke des 17. Jahrhunderts online
Im August 2019 konnte das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt VD 17-Unika in der Staatsbibliothek zu Berlin erfolgreich abgeschlossen werden. Das Projekt hatte die Digitalisierung der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts zum Ziel, die als Alleinbesitz der Staatsbibliothek im „Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts“ (VD 17) nachgewiesen sind und bisher nicht online zur Verfügung standen.
Ein Beitrag von Evelyn Hanisch und Friederike Willasch.
Das Projekt
Mit Abschluss des vor vier Jahren gestarteten Projekts VD 17-Unika ist ein weiterer wichtiger Meilenstein im Rahmen des Masterplans zur Digitalisierung des VD 17 erreicht. Das Projekt ergänzt hervorragend das bereits 2008 von der DFG in die Förderung aufgenommene, regional ausgerichtete Projekt Preußen 17 digital, das als erstes Massendigitalisierungsprojekt der Staatsbibliothek die Digitalisierung von Werken mit preußischen und nordostdeutschen Druckorten zum Gegenstand hatte.
Die Staatsbibliothek zu Berlin übernahm als VD 17-Trägerbibliothek auch jetzt wieder die Verzeichnung und Digitalisierung kleinerer Bibliotheksbestände für externe Partner: die St. Bartholomäuskirche in Röhrsdorf bei Meißen und die Bibliothek des Geistlichen Ministeriums in Greifswald sowie die Spezialbibliotheken der Bundeswehr. Auch zwei Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz waren mit einschlägigen Drucken dabei, das Geheime Staatsarchiv und die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin.
Durch den Abschluss der beiden Projekte VD 17-Unika und Preußen 17 digital stehen der Forschung nun mehr als 25.000 Titel des 17. Jahrhunderts als digitalisierte Ausgaben mit tiefgehenden Strukturdaten in den Digitalisierten Sammlungen zur Verfügung. Und gerade in den kleineren externen Bibliotheksbeständen identifizierten die Mitarbeiter*innen der Abteilung Historische Drucke wieder zahlreiche „Nova“, neue Titel, die nun im VD 17 erstmals erfasst und über die Digitalisierten Sammlungen online zugänglich sind.
Im 17. Jahrhundert kulminierten die seit der Reformationszeit schwelenden konfessionellen Konflikten und machtpolitischen Auseinandersetzungen im Dreißigjährigen Krieg, der zum zentralen Thema in Flugschriften, Streitschriften oder Predigten werden sollte. Die Literatur wurde vielfältiger, neue Gattungen drängten auf den Buchmarkt. Aus dem Projektbestand stellen wir Ihnen hier zwei Entdeckungen aus der spezifischen Druck- und Buchgeschichte des 17. Jahrhunderts vor, die zwar nicht repräsentativ für die Masse der Drucke sind, aber eindrucksvolle Zeugnisse dessen, was die Menschen im 17. Jahrhundert bewegte.
Politischer Hasenkopf und Tabakbruder
Im späten 17. Jahrhundert differenzierte sich die heute allseits bekannte Gattung des Romans weiter aus. Eine kurze Blüte erlebten in diesem Zuge in den 1680er Jahren sogenannte politische Romane in einer häufig außergewöhnlich satirischen und provozierenden Ausprägung. Zwei weniger polemische Ausgaben sind Teil des VD 17-Unika Projektbestandes. „Der Politische possirliche und doch manierliche Simplicianische Hasen-Kopff“ (VD17 1:667553C) von Erasmus Grillandus ist als Liebesgeschichte gestaltet, während im „Politischen und Lustigen Tobacks-Bruder“ (VD17 1:667564S) von Michael Kautzsch Geschichten aus dem studentischen Milieu rund um das Rauchen erzählt werden. Das Pseudonym Erasmus Grillandus wird dem Theologen Johannes Riemer zugeschrieben, der dem akademischen Umfeld angehörte, als Vertreter der Frühaufklärung zu den bedeutendsten Autoren des politischen Romans zählte und sich in seinen zahlreichen Schriften kritisch mit dem kleinstädtischen Bürgertum auseinandersetzte.
Die handlichen kleinformatigen Bände erfüllten alle Anforderungen, um ein breites Publikum anzusprechen. Der populäre Lesestoff war eine brisante Mischung aus Fiktion und Fakten, dazu gedacht, relevantes Wissen zu vermitteln. Konzipiert wurden die Romane in einer Zeit der politischen Bewegung, wobei „politisch“ als kluges, gewandtes und gefälliges Benehmen begriffen und damit die Figur des Politicus zum Rollenbild für jegliches Sozialverhalten wurde.
So ist der politische Hasenkopf im Grunde ein Verhaltensratgeber, das heißt eine „Zeit-vertreibliche Vorstellung wie man bey erbarn Gesellschafften und Zusammenkünfften junger Leute, so auch bey Frauen-Zimmer, allerhand lustige und zuläßige Schertz, in lächerlichen Discursen, und anderer Kurtzweil, wohl und bequem anbringe“. Der sozial unterlegende Protagonist ist also aufgrund seines eloquenten Verhaltens in Liebesangelegenheiten erfolgreich. Der Politicus wird in diesem Zusammenhang als jemand dargestellt, der sich mit den Damen zu unterhalten weiß, wie auch der Kupfertitel zeigt.
Der politische Tabakbruder enthält hingegen allerhand Anekdoten, wobei auch verschiedene Aspekte des Rauchens diskutiert werden. Entsprechend der im Titel genannten „Sonderlichen Beschreibung Des Edelen Krautes des Tobacks“ beinhaltet der Druck eine „Tobacks-Zunfft-Ordnung“ zum richtigen Umgang mit Tabak und schließt mit einem Anhang, der eine „Erörterung etlicher nützlicher Fragen vom Toback“ enthält. Beide Exemplare der zweiten bzw. dritten Auflage im Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin zählen zu den seltenen Ausgaben. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gattung längst ihren Höhepunkt überschritten, weshalb diese Auflagen vermutlich keinen reißenden Absatz mehr gefunden hatten. Dennoch sind sie eindrücklich Zeugnisse der kurzen aber großen Popularität der politischen Romane am Ende des 17. Jahrhunderts.
Stammbücher und Studentenleben
Zu den interessanten Entwicklungen auf dem Buchmarkt des 17. Jahrhunderts zählten auch literarische Verarbeitungen von Stammbüchern. Diese Zusammenstellungen von gedruckten emblematischen Illustrationen, meist im Querformat herausgegeben, kamen zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf und gingen im weitesten Sinne aus den Bildbeigaben von Freundschaftsbüchern (alba amicorum) hervor. Dabei handelte es sich um Erinnerungsbücher, in die sich Freunde und Verwandte eintrugen. Im 17. Jahrhundert wurden Darstellungen von Szenen aus den Studentenleben immer beliebter, darunter Motive geselliger Situationen mit Musik, Spiel und Trinkgelagen inklusive Kampfszenen, aber auch Erotisches oder Groteskes. Begleitet wurden diese Abbildungen in den Stammbüchern von lateinischen, zuweilen auch deutschen Sprüchen und Versen.
Die akademische Studentenschaft hat die Tradition der Stammbücher nicht nur weiterentwickelt sondern wurde auch als Käuferschaft explizit ins Auge gefasst. So will die Vorrede des „Stambuch der Jungen Gesellen“ (VD17 1: 078842Z) des Basler Druckers Ludwig König besonders der „lieben Studierenden Jugend dieses Büchlein befehlen unnd zuschreiben“ und betont, dass die Leser die Abbildungen „zu unterweysung ihres lebens gebrauchen wöllen“. Während Königs Motivkreis eher als eine willkürliche Zusammenstellung ohne inhaltlichen Zusammenhang erscheint, sollten die Szenen in der „Philotheca Corneliana“ (VD17 1:694188L) des Kupferstechers Peter Rollos dem Leben des von der Universität verwiesenen Studenten Cornelius Relegatus entsprechen, der literarischen Figur eines beliebten satirischen Theaterstücks. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Stammbücher lässt sich auch daran ablesen, dass die Werke im Laufe des 17. Jahrhunderts etliche Neuauflagen erfuhren.
Besondere Gelegenheiten
Über ein Drittel der digitalisierten VD 17-Unika aus dem Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin sind Personalschriften oder auch Gelegenheitsschriften, da sie zu ganz unterschiedlichen Anlässen wie Hochzeiten, Geburtstagen, Jubiläen, Amtsantritten, Promotionen und – dies vor allem – zu Beerdigungen verfasst und gedruckt wurden. Diese Gattung zeichnet sich oft durch geringen Textumfang, niedrige Auflagenhöhe und regional begrenzte Verbreitung aus. Kein Wunder also, dass die Gelegenheitsschriften für den im Projekt digitalisierten Bestand von selten überlieferten Werken eine besondere Rolle spielen.
Die Leiche im Druck
Der häufigste Anlass eine Gelegenheitsschrift drucken zu lassen war der Tod. Neben der eigentlichen Predigt konnten die Hinterbliebenen der verstorbenen Person in Trauerreden, Gedichten und Liedern die letzte Ehre erweisen. Literaturgeschichtlich gehört die Leichenpredigt zur Gattung der Erbauungsliteratur und entwickelte sich zu dem Medium schlechthin, den Protestantismus, seine Werte und Ansichten in der Bevölkerung zu verbreiten. Mit der Neugestaltung der kirchlichen Begräbnisfeier ohne Fürbitten, Totenoffizium und Totenmesse, an deren Stelle der Gemeindegottesdienst trat, stand jetzt die protestantische Leichenpredigt und mit ihr die Verkündigung des Wortes Gottes im Vordergrund. Mit den ersten gedruckten Leichenpredigten von 1525 auf den Tod Kurfürst Friedrich den Weisen und 1532 auf dessen Bruder Johann den Beständigen wird Martin Luther zum Wegbereiter der neuzeitlichen Leichenpredigt. Ende des 16. Jahrhunderts entstand aus den bislang in den Predigttext eingeflochtenen Kurzbiographien ein eigenständiger Abschnitt, der ausführlich den gesamten Lebenslauf und die Sterbeszene der „bepredigten“ Person eindringlich schildert und dessen Umfang im Laufe der Zeit enorm zunahm. Die erste Blütezeit der Funeralschriften setzte vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges ein und erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, oft in übersteigerter Form mit Drucken von 100, 200 und mehr Seiten.
Das Wichtigste auf einen Blick
Das Titelblatt zeichnet sich bei Funeralschriften durch eine sehr einheitliche Gestaltung aus. Charakteristisch ist die Einbindung elementarer Informationen des traurigen Anlasses in einem einzigen Satz, der sich – syntaktisch nicht immer ganz ausgewogen – über das gesamte Titelblatt erstreckt: Beginnend mit einem Motto wird der Name der verstorbenen Person im oberen Drittel durch eine größere Auszeichnungstype besonders hervorgehoben. Ehefrauen sind meist mit ihrem Geburtsnamen genannt, dem die Nennung des Ehemanns mit dessen Amtsbezeichnung folgt. Daran schließen sich der Todeszeitpunkt, Datum und Ort der Beerdigung, die Bibelstelle des Leichenpredigttextes sowie der Name des Predigers an.
Unzertrennlich: Leichenpredigt und Lebenslauf
Dem eigentlichen Text der Leichenpredigt ist in der Regel eine Widmung an die engsten Hinterbliebenen vorangestellt, die entweder in kurzer Form oder in ausführlicherer Form gestaltet ist. Das Herzstück der Funeralschrift stellt die christliche Leichenpredigt dar, die von einem Geistlichen vor der versammelten Trauergesellschaft gehalten wurde. Sie besteht aus der Bibelstelle, auf der die Leichenpredigt aufgebaut ist und dem Exordium oder Eingang, das in den theologischen Teil der Predigt einführt, um die Trauergemeinschaft auf die Thematik einzustimmen. Darauf folgt der Hauptteil der Predigt mit der Exegese des Bibelzitats, die dann in der Applicatio oder dem Gebrauch in Beziehung zu der verstorbenen Person gesetzt wird.
Der Lebenslauf, auch als Personalia, Ehrengedächtnis oder Curriculum Vitae bezeichnet, der unmittelbar an die Predigt anschließt, bildete sich im 17. Jahrhundert zu einem eigenen Abschnitt heraus, der in der Endphase oftmals den Umfang der christlichen Predigt übertreffen konnte. Beginnend bei der Geburt und der Aufzählung der Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits, wird der detaillierte Lebensweg der verstorbenen Person beschrieben, der mit der ausführlichen Schilderung des Krankheitsverlaufs und Sterbeprozesses, meist mit präziser Angabe des Todeszeitpunkts endet. Mitunter beruht dieser Abschnitt auf den eigenhändig verfassten Lebensläufen der Verstorbenen.
Trauerarbeit im Freundeskreis
Auch die Hinterbliebenen und Verwandten hatten Gelegenheit, sich schriftlich an dem traurigen Ereignis zu beteiligen. Die Abdankungsrede oder Parentatio, die meist auf den Lebenslauf folgte, stellt eine Gedenkrede profanen Inhaltes dar, die von einem nahen Hinterbliebenen gehalten und die bisweilen bis zu zwei Stunden dauern konnte.
Schließlich fehlen in keiner Leichenpredigt die Epicedia, also Trauergedichte zu Ehren der verstorbenen Person, die von Verwandten und Freunden verfasst wurden. Ihr Aufbau unterliegt einem strengen dreiteiligen Schema, dem Lob (laudatio), der Klage (lamentatio) und dem Trost (consolatio). Einen besonderen Blickfang stellen die sogenannten Figurengedichte dar, oft in Kreuzform oder seltener als Stundengläsern dargestellt, die das Verrinnen der Zeit und damit die Vergänglichkeit versinnbildlichen.
Diese vier Elemente – Text der Leichenpredigt, Lebenslauf, Abdankung und Epicedien – sind Bestandteil nahezu jeder Leichenpredigt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, die von Bekanntheitsgrad, Status der jeweils geehrten Person und natürlich von den finanziellen Möglichkeiten abhängig ist. Bei ehemaligen Universitätsangehörigen kann zusätzlich das Programma Academicum beigefügt sein, das überwiegend in lateinischer, selten auch in deutscher Sprache verfasst war. Darin werden sämtliche Universitäts- oder Schulangehörigen zur Teilnahme am Begräbnis aufgefordert und biographische Informationen über die verstorbene Person gegeben, das konnten auch die Ehefrau oder die Kinder eines Professors sein.
Schmückendes Beiwerk: Porträts und Kupfertitel
Wer es sich leisten konnte, schmückte die Leichenpredigten durch Zugabe von Zierleisten, schlichten Holzschnitten oder aufwendigeren Kupferstichen, die in ganz seltenen Fällen gleichzeitig die Krankengeschichte illustrieren konnten. Eine prachtvolle Ausstattung konnten sich jedoch nur adelige und wohlhabende Bürger leisten. In Adelskreisen wurde es zunehmend beliebter, den Leichenpredigten ein kunstvolles Frontispiz voranzustellen, das überwiegend die verstorbene Person im Porträt abbildete. Ebenso wurde die Abbildung des überreich geschmückten Sarges als beliebtes Repräsentationsmittel eingesetzt.
Zu Grabe getragen
Bereits zum Ende des 17. und spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts verlor die Leichenpredigt an Bedeutung. Insbesondere die barocke Pracht und der Wetteifer, eine möglichst üppig ausgestattete Leichenpredigt herauszugeben, deren Umfang sich immer mehr aufblähte und die Druckkosten in die Höhe trieb, führte zu einem ruinösen Wettbewerb: Der teure Verstorbene wurde am Ende schlichtweg zu teuer.
Und heute? Die Funeralschrift lebt!
Die frühneuzeitlichen Leichenpredigten sind für die Wissenschaft von unschätzbarem Wert und stellen eine allgemeinhistorische, individual- und mentalitätsgeschichtliche Quelle ersten Ranges dar. Insbesondere die biographischen Teile sind für eine Vielzahl historischer Fragestellungen eine wahre Fundgrube. Als interdisziplinäre Quellen werden Leichenpredigten von der Literatur- und Kunstgeschichte, der Medizingeschichte, der Bildungsgeschichte, der historischen Familienforschung und vielen weiteren wissenschaftlichen Disziplinen genutzt und ausgewertet.
1.600 Leichenpredigten wurden im Projekt VD 17-Unika neu digitalisiert – damit stehen jetzt insgesamt mehr als 5.100 Leichenpredigten aus dem Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin online zur Verfügung.
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