Regionale Wirtschaftsentwicklung in qualitativ-quantitativer Doppelperspektive – die historischen Jahresberichte deutscher Handelskammern im Open Access
Der hohe Quellenwert und die bislang nur geringe Rezeption der Jahresberichte der 173 Handelskammern im Deutschland des langen 19. Jahrhunderts von Seiten der wirtschafts-, sozial- und unternehmenshistorischen Forschung stehen in einem eklatanten Missverhältnis zueinander. Dieser Befund dürfte vor allem der unübersichtlichen Überlieferungssituation der seit den 1830er Jahren zunächst vereinzelt in den vom französischen Recht geprägten Territorien des Deutschen Bunds, ab den frühen 1850er Jahren dann verbreitet nachweisbaren Handelskammerberichten geschuldet sein. Mit ihren jahresweise erstatteten Berichten – deren Veröffentlichung war seit der Reichsgründung sogar vorgeschrieben – erfüllten die Handelskammern zum einen ihre Meldepflichten gegenüber den zuständigen Ministerien der deutschen Staaten. Umgekehrt bot dieses Erfordernis aber auch die Chance, Einfluss auf die regionale bzw. staatliche Politik zu nehmen. Da die Jahresberichte zugleich die eigenen Mitglieder adressierten, um Rechenschaft über die Aktivitäten der Kammerleitung abzulegen – bis 1897 war dazu eigentlich eine separate Veröffentlichung vorgesehen –, sind darin zudem ihre an die Regierungen gesandten Petitionen und Gutachten im Wortlaut abgedruckt. Aufgrund ihres Erscheinens außerhalb des Buchhandels wurde diese Quellengattung von Archiven wie Bibliotheken aber nicht systematisch, sondern meist nur vereinzelt auf lokaler bzw. regionaler Ebene gesammelt – ein Sachverhalt, aus dem sich nicht zuletzt das Fehlen einer Gesamtdarstellung der ökonomischen bzw. wirtschaftspolitischen Bedeutung der Handelskammern in ihrer Hybridfunktion als Selbstverwaltungsorgane, Hilfsbehörden und Interessengruppen im Zeitalter der Industrialisierung erklären mag.
Auf dem so umrissenen Feld nimmt jedoch die Staatsbibliothek zu Berlin (Stabi) aufgrund ihrer Zentralfunktion als Dienstbibliothek der Ministerien und obersten Behörden in Preußen und im Deutschen Reich eine Sonderstellung ein: Denn sie besitzt etwa 80% der in der Zeitschriftendatenbank, dem zentralen Katalog für den Nachweis von Periodika in Sammlungseinrichtungen des deutschen Sprachraums, unter wechselnden Titeln verzeichneten Jahresberichte deutscher Handelskammern mit Bezugsjahr bis 1918 – vielfach sogar in (nahezu) durchgängigem Verlauf ab dem jeweiligen Erscheinungsbeginn.
Zumal angesichts ihrer fragmentierten Überlieferung erscheint die Verbesserung von Sichtbarkeit und Verfügbarkeit dieser Quellengattung im Wege ihrer Digitalisierung umso dringender geboten, als sich doch die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend standardisierten Handelskammerberichte aufgrund ihres charakteristischen zweiteiligen Aufbaus als Fundament für unterschiedlichste, qualitative wie quantitative Studiendesigns anbieten. Aber auch zuvor bereits hatten die Aktivitäten namentlich des Preußischen Statistischen Bureaus zur Erstellung Vergleichender Übersichten des Ganges der Industrie, des Handels und Verkehrs im preußischen Staate nach den Berichten der Handelskammern und kaufmännischen Corporationen (Berlin 1861 – 1870) zur Vereinheitlichung dieser Textgattung beigetragen. So beginnen die Handelskammern ihre Jahresberichte in der Regel mit einer differenzierten Einschätzung der Wirtschaftslage des eigenen Sprengels, an die sich ein statistischer Anhang mit Daten zur regionalen Entwicklung von Industrie, Handel, Gewerbe und Beschäftigung anschließt. Im Zentrum des ersten, meist mit Ansichten, Gutachten, Wünsche überschriebenen Berichtsteils – der zweite figuriert dann als Tatsächliches – stehen die von den Kammern ausgewählten Äußerungen einzelner Unternehmen, die zuvor mithilfe von Fragebögen eingeholt wurden und ein nuanciertes und insbesondere in Hinblick auf deren Zukunftserwartung aufschlussreiches, wiewohl quellenkritisch zu hinterfragendes Stimmungsbild zeichnen.
Dabei ist es gerade ihr formales, qualitative und quantitative Elemente integrierendes Gepräge, das den Handelskammerberichten ihre besondere Forschungsrelevanz und zudem sogar Eignung für die Anwendung von Mixed Methods-Ansätzen der Digital Humanities gibt – etwa von Sentiment Detection und automatischer Tabellenextraktion zur Modellierung kollektiver konjunkturhistorischer Stimmungsbarometer. Aber auch für konventionelle wirtschafts-, sozial- oder unternehmenshistorische Studiendesigns vor allem für die Zeit vor Ausdifferenzierung der amtlichen Statistik des Deutschen Reichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts besitzen die Handelskammerberichte kaum zu überschätzenden Quellenwert – mithin für die nach wie vor intensiv beforschte Transformationsphase der Industrialisierung. Denn die regionale Ungleichzeitigkeit des industriellen Take-off in Deutschland zwischen 1830 und 1870 schlug sich nicht zuletzt auch in einer uneinheitlichen statistischen Erfassung von wirtschaftlichen Tatbeständen nieder, die sich in der Retrospektive als mögliche Wachstums- oder Konjunkturindikatoren eignen – eine Kontrastfolie, vor der sich das Erkenntnispotential der vergleichsweise standardisierten und in hoher regionaler Dichte überlieferten historischen Handelskammerberichte umso deutlicher ausnimmt.
Um die Hebung dieses weitgehend übersehenen Quellenschatzes zu befördern, wird die Stabi in den kommenden drei Jahren dank der großzügigen Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ihren Gesamtbestand an Jahresberichten deutscher Handelskammern digitalisieren und unter Public Domain Mark im Open Access zugänglich machen – vom jeweiligen Erscheinungsbeginn an bis zum Berichtsjahr 1918. Zur nachfragegetriebenen Schließung ihrer meist kriegsbedingten Sammlungslücken beabsichtigt die Stabi flankierend, Forschenden auch über den eigentlichen Projektzeitraum hinaus einen Fonds zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe fehlende Jahrgänge auf Wunsch aus externen Beständen digitalisiert werden können. Die auf beiden Wegen entstehenden und im Interesse eines möglichst reibungslosen Datenaustauschs mit dem IIIF-Standard kompatiblen Digitalisate finden Sie dann sukzessive in unseren Digitalisierten Sammlungen, im Stabikat sowie in Aggregatorportalen wie der Deutschen Digitalen Bibliothek.
Jenseits seines eigentlichen Kernziels möchte das hier vorgestellte, frisch bewilligte Projekt zugleich die Grundlage für ein Folgevorhaben schaffen, das auf Basis der erzeugten Digitalisate die Weiterentwicklung von Verfahren zur automatischen Tabellenextraktion zum Gegenstand haben wird. Denn diese (zumal bei älteren Objekten) in ihrer Komplexität kaum zu überschätzende Aufgabe wird von den verfügbaren Softwarelösungen bislang nicht zufriedenstellend adressiert. Da bereits die OCR-Erkennung nur des regelmäßig von Tabellen und Einschüben durchbrochenen sowie von Marginalien und Fußnoten ergänzten Textteils der Handelskammerberichte in Frakturschrift eine beträchtliche Herausforderung darstellt, soll auch dieser Arbeitsschritt nicht im Zuge der Digitalisierung, sondern erst im Rahmen des geplanten Anschlussvorhabens erfolgen. An dieses zweistufige Vorgehen ist die Erwartung gerichtet, zu einem späteren Zeitpunkt von den sich aktuell rasant beschleunigenden Entwicklungen auf dem Feld der maschinellen Tabellenerkennung und insbesondere der Cascade Network- bzw. Graph Neural Network-Technologien profitieren zu können.
Zu dieser Dynamik tragen nicht zuletzt auch die langjährigen Forschungsaktivitäten der Stabi zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz auf dem Gebiet der Layoutanalyse digitalisierter historischer Drucke und Zeitungen bei – im Kontext mehrerer u.a. von DFG, BMBF und BKM geförderter Projekte, denen das hier skizzierte Digitalisierungsvorhaben wiederum ein neues Anwendungsszenario zur Optimierung der von ihnen entwickelten Instrumente wie Eynollah bietet. Umgekehrt kann das dabei entstehende Set maschinell aus den digitalisierten Handelskammerberichten ausgeschnittener und danach intellektuell transkribierter Tabellen wertvollen Ground Truth für das geplante Folgevorhaben liefern, also qualitätsgesicherte Referenzdaten für maschinelles Lernen. Denn freier Ground Truth zum Training von Algorithmen für die automatische Extraktion von Tabelleninhalten ist rar, zudem – wie z.B. die häufig genutzten Sets PubTabNet und SynthTabNet – meist aus modernen Quellen geschöpft und daher nur sehr bedingt für historisches Material geeignet.
Aber selbstverständlich sind die so gewonnenen Ground Truth-Daten nicht nur für die Digital Humanities relevant, sondern im gleichen Maße auch für die wirtschafts-, sozial- und unternehmenshistorischen Forschung. Daher sollen diese Inhalte auf Emporion veröffentlicht werden, dem offenen Forschungsdaten-Hub für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, das die Stabi seit Kurzem in Kooperation mit dem DFG-Schwerpunktprogramm 1859 Experience and Expectation. Historical Foundations of Economic Behavior und der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte betreibt.
Sie sehen: Open Access ist bei diesem Vorhaben in gleich mehrerer Hinsicht Trumpf – schließlich geht es hier ja nicht um das stille (Handels)Kämmerlein.
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