Konrad Haebler und die seltsamen Typen
Der betagte Herr trägt Anzug und Krawatte. Nach vorn gebeugt sitzt er am Tisch. Seine Unterarme sind verschränkt, in der rechten Hand hält er eine Lupe. Durch seinen Kneifer hindurch schaut er konzentriert in einen Inkunabelband, der vor ihm liegt. So hat ihn Walther Witting (1864-1940) im Jahr 1928 gemalt.
Witting war Begründer der Renten- und Pensionsanstalt für deutsche Bildende Künstler und Vorsitzender der Dresdner Kunstgenossenschaft. Er schuf zahlreiche Portraits sowie ein Wandgemälde im Rathaussaal in Radebeul. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet und mit der Ernennung zum Königlich Sächsischen Hofrat geehrt.
Der Dargestellte ist Konrad Haebler (1857-1946), der „Nestor der deutschen Inkunabelkunde“. Wie sein Maler wurde er in Dresden geboren. Nach einem sprachwissenschaftlichen Studium in Leipzig war er in der Königlich Öffentlichen Bibliothek in Dresden tätig. 1907 wechselte er an die Königliche Bibliothek Berlin. Hier leitete er von 1914 bis 1921 die Handschriftenabteilung. In seiner dortigen Funktion als Vorsitzender der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke verzeichnete und beschrieb er alle damals bekannten Drucktypen der Inkunabelzeit.
Als Inkunabeln oder Wiegendrucke bezeichnet man die Druckschriften, die seit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (+ 1468) um 1454 und dem 31.12.1500 mit beweglichen Lettern hergestellt wurden. Im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW), dessen erster Band 1925 erschien, und in der GW-Datenbank werden sie verzeichnet. Vor kurzem ist die letzte Lieferung des 12. GW-Bandes erschienen.
In der Inkunabelzeit stellte jeder Drucker seine Lettern selbst her. Deshalb unterscheiden sich die Druckbilder der verschiedenen Offizinen in Gestalt und Größe. Konrad Haebler entwickelte eine Methode, um mittels Abgleichs der Form der Majuskel M bzw. der Buchstabenkombination Qu und der Kegelhöhe der Drucktypen gemessen in 20 Zeilen die Drucker von Inkunabeln, die kein Impressum haben, oder von Inkunabelfragmenten zu identifizieren. Bei der Identifizierung vergleicht man die Drucktypen und sonstigen Materialien der Vorlage (z. B. Initialen, Holzschnitte) mit der Haeblerschen Tabelle. Diese ist heute das bewährteste Klassifizierungsschema zur Bestimmung von Drucktypen. Wer mehr darüber erfahren möchte, lese im Bibliotheksmagazin 2014, Heft 3, S. 41-48 den Aufsatz Auf der Spur der seltsamen Typen, Dr. Falk Eisermann und Dr. Oliver Duntze.
Das Ölgemälde auf Leinwand mit der Signatur Kunstsammlung K 450 misst 68,5 x 79 cm. Auf der Rückseite findet sich der Schriftzug: „Dr. Konrad Haebler | Prof. Geh. Regierungsrat | Abt. Direktor an der pr. Staatsbibliothek zu Berlin | geb. d. 29. Oktober 1857 | gemalt Nov. 1928“. Dank des Bildes ist Haebler auch 100 Jahre nach dem Erscheinen des ersten GW-Bandes bei den Sitzungen des Inkunabelreferats präsent. Das Kunstwerk kann nach vorheriger Terminabsprache im Raum R 06 N 14 besichtigt werden.
(Es sei noch angemerkt, dass Haebler keine Schaumstoffkeile verwendet und sich in durchaus ungewöhnlicher Armhaltung auf den Band stützt, was heute im Handschriftenlesesaal freilich nicht mehr geduldet würde. Wir nehmen an, dass der Maler hier eine gewisse künstlerische Freiheit walten ließ.)


![Plenarium, deutsch. Augsburg: Johann Bämler, 30.IX.[14]76. Staatsbibliothek zu Berlin – PK. Lizenz: CC-BY-NC-SA Abbildung aus: Plenarium, deutsch. Augsburg: Johann Bämler, 30.IX.[14]76. Staatsbibliothek zu Berlin – PK. Lizenz: CC-BY-NC-SA](https://blog.sbb.berlin/wp-content/uploads/Buchpatenschaft_8_20_Inkunabel-180x180.jpg)
![Ausschnitt aus Titelblatt: Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum. [Strassburg: Heinrich Eggestein, um 1475/78] [vielmehr nicht nach 1475].Bibliothekssignatur 4° Inc 2143a (GW03756). Ausschnitt aus Titelblatt: Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum. [Strassburg: Heinrich Eggestein, um 1475/78] [vielmehr nicht nach 1475].Bibliothekssignatur 4° Inc 2143a (GW03756). Staatsbibliothek zu Berlin - PK. Lizenz: CC-BY-NC-SA](https://blog.sbb.berlin/wp-content/uploads/Beitragsbild_Oktober_2018-180x180.jpg)

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