Zwischen Kulturblüte und Apokalypse – Spanien im Mittelalter
Für den Wissens- und Kulturtransfer zwischen Orient und Okzident kommt Spanien im Mittelalter eine herausragende geschichtliche Bedeutung zu. Vom 8. bis zum 15. Jahrhundert formte sich hier in einem Gemenge unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Denkvorstellungen eine der zentralen kulturelle Schnittstellen Europas aus. Die Auswirkungen von damals sind bis heute spürbar. Vor den heutigen Herausforderungen eines scheinbaren „Zusammenpralls der Zivilisationen“ (so der Titel des umstrittenen Buches von Samuel P. Huntington) gewinnen sie neue Aktualität.
Zusammenprall der Zivilisationen?
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert hatten Christen, Muslime und Juden der iberischen Halbinsel über 1000 Jahre lang ihren Stempel aufgedrückt. Dabei agierte man häufig gegen-, ebenso häufig aber auch miteinander. In kaum einer Region der damals bekannten Welt war (und ist) dieser Wechselprozess aus Abgrenzung und Bekämpfung bzw. Akkulturation und Toleranz so intensiv zu spüren wie in Spanien im Mittelalter. Je nach Perspektive war und ist man berechtigt, den angeblichen „Zusammenprall der Zivilisationen“ als Kulturblüte ungeahnten Ausmaßes oder als apokalyptischen Kampf um die (damalige) Weltmacht zu beschreiben. Die historische Wahrheit liegt wohl dazwischen, in einer langen Koexistenz der verschiedenen Kulturen, wie sie z. B. in einigen der berühmten „Weißen Dörfer“ Andalusiens bis heute zu greifen ist.
Die Berliner Staatsbibliothek besitzt mehrere Objekte aus diesem Kontext. Es sind vorwiegend abendländische Handschriften. Einige zentrale Stücke sind kürzlich in einem Katalogisierungsprojekt der Manuscripta latina in folio zum Vorschein gekommen. Sie stehen in diesem Beitrag zu Spanien im Mittelalter im Fokus. Ergänzend kommen einige Objekte der Orientabteilung der Bibliothek zur Sprache. Sie erweitern die in der Rückschau christlich geprägte Kulturregion des Hochmittelalters in einer komplementären arabisch-muslimischen bzw. hebräisch-jüdischen Perspektive.
Früchte einer Forschungsreise
1848 gelangten Fragmente aus ehemals sechs hochmittelalterlichen Handschriften iberischer Herkunft in die damalige Königliche Bibliothek Berlin. Sie befinden sich heute im Besitz der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek und sind auf drei Signaturen verteilt (Ms. lat. fol. 327; Ms. lat. fol. 328; Ms. lat. 341). Die Bruchstücke stammen aus dem Besitz des Berliner Historikers Gotthold Heine (1819-1848) und wurden vermittelt durch dessen Bruder Eduard (1821-1881), seines Zeichens Mathematiker an den Universitäten Bonn und Halle/Saale.
Wilhelm Gotthold (nicht Gotthilf!) Heine gehört zu den Pionieren der deutschen Hispanistik. Nach Übersiedelung mit seiner Familie aus Leipzig nach Berlin studierte er an der dortigen Universität. Er erwarb sich fundierte Kenntnisse zur Geschichte Spaniens im Mittelalter. Das versetzte ihn in die Lage, um die Mitte der 1840er-Jahre eine ausgedehnte Forschungsreise durch zahlreiche Archive und Bibliotheken auf der iberischen Halbinsel zu unternehmen. Vermutlich wurde er dabei finanziell vom preußischen Staat unterstützt. 1847 kehrte er – nach mindestens zwei Jahren Forschungsaufenthalt – nach Berlin zurück. Hier begann er, mehrere auf das deutsche Publikum abgestimmte Veröffentlichungen zu Spanien im Mittelalter vorzubereiten, vor allem über die Herrschaft Kaiser Karls V. und des Westgotenreiches. Wegen seines frühen Todes konnten diese Werke nur posthum veröffentlicht werden. Bei der Ausarbeitung der Publikationen verwendete Gotthold Heine ohne Zweifel auch mitgebrachte Fundstücke seiner Forschungsreise, wie z. B. die oben genannten Handschriftenfragmente.
Das Erbe der spanischen Christen
Bei den über Heine nach Berlin gekommenen Handschriften handelt sich ausnahmslos um Zeugnisse des lateinischen Christentums in Spanien im Mittelalter. Das bedeutendste unter ihnen ist ein Fragment eines Lukaskommentars aus der Feder des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand (339-397). Die Handschrift (Ms. lat. fol. 327) ist in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in Nordspanien (Kastilien), vielleicht sogar in der damaligen Metropole Toledo, entstanden.
Die hier vorkommende mozarabische („westgotische“) Schrift verwendeten damals die im maurischen Machtbereich lebenden Christen („Mozaraber“). Sie hat Einzelformen der so genannten „jüngeren römischen Kursive“ aus der Antike bewahrt. Damit steht dieses Fragment, das einzige Beispiel mozarabischer Schrift im Besitz der Berliner Staatsbibliothek, sinnbildlich für die Bewahrkräfte des spätantik-christlichen Erbes im arabisch dominierten Spanien im Mittelalter vor dem 11. Jahrhundert.
Neuerungen aus dem Frankenreich
Unter Heines Bruchstücken finden sich auch Reste von vier Handschriften, bei denen sich bereits die beginnende Reconquista am Horizont abzeichnet. Die Rückeroberung der iberischen Halbinsel wurde ab dem 11. Jahrhundert nicht nur von christlichen Königen des Nordens und Nordostens vorangetrieben, sondern auch durch die Mönche des Zisterzienserordens. Mit ihnen änderte sich auch die äußere Erscheinung der Handschriften. In den vorliegenden vier Stücken sind diese Neuerungen erkennbar an der (fast) durchgängigen Verwendung der karolingischen Minuskel als der neuen abendländischen „Einheitsschrift“. Neu sind aber auch der an fränkischen Vorbildern geschulte Buchschmuck (Ms. lat. fol. 328,1-5) sowie in einem Fall (Ms. lat. fol. 328,1-2) die Verwendung aquitanisch-nordspanischer Musiknotation (Neumen).
Mit einer Bibel (Ms. lat. fol. 328,4-5), einem Martyrologium (Ms. lat. fol. 328,3), einer Sammlung von Homilien (Ms. lat. fol. 328,6-7) sowie einem nicht identifizierbaren liturgischen Text (Ms. lat. fol. 328,1-2) handelt es sich auch inhaltlich um eine zusammengehörige Fragmentengruppe. Sie gelangte wohl geschlossen aus einem nordostspanischen, vermutlich katalanischen Kloster in Heines Besitz. Gegenüber dem mozarabischen Fragment zeichnet sich an der besser lesbaren Schrift eine klarere Rationalität ab, aber auch eine selbstbewusstere theologische Positionierung gegenüber der nach wie vor dominanten arabischen Kultur und deren Glaubenseinstellungen. Im Martyrologium, einer Sammlung von Heiligenlegenden (Ms. lat. fol. 328,1-2), ist die altertümliche Form eines „westgotischen“ Minuskel-e inmitten der moderneren karolingischen Minuskel erhalten geblieben ist. Hier erkennt man noch eine schwache Spur der inzwischen weit zurückgedrängten Schrifttradition der Mozaraber in Spanien im Mittelalter.
Schatten der Apokalypse
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist die Stimme der Reconquista auf der iberischen Halbinsel nicht mehr zu überhören. Das zeigt sich in einem weiteren, über Heine nach Berlin gelangten Handschriftenfragment von mehreren Blättern (Ms. lat. fol. 341). Hier sind einige Texte versammelt, bei denen sich christliche Vorstellungen vom Weltende (nach der biblischen Offenbarung des Johannes) mit kruder Kreuzzugspropaganda zu einer schrillen, gegen die arabisch-muslimischen und hebräisch-jüdischen Kulturkreise gerichteten Symphonie vermischt haben. Jerusalem war vielleicht nicht für jeden der „bewaffneten Pilger“ erreichbar. Aber auf der iberischen Halbinsel gab es Möglichkeiten zuhauf für den nun als Kreuzzug bezeichneten „Heidenkampf“. Parallel machten sich zunehmend düstere Vorstellungen vom Weltende und vom Antichrist der Apokalypse breit. Der nordspanische Mönch Beatus de Liébana († nach 798) hatte mit seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes in den 770er-Jahren ein Werk geschaffen, das in Schrift und Bild den Kampf zwischen Christen und Muslimen nach der Gründung des Kalifats von Córdoba als letzte Auseinandersetzung des christlichen Weltalters stilisierte. Doch das Kommen des Antichrist und das Weltende blieben in den folgenden symbolträchtigen Jahrhundertwenden – vor allem im lange erzitterten Jahr 1000 – aus. Die Vorstellungen des Beatus blieben in Spanien im Mittelalter aber virulent. Im Gefolge der Kreuzzugspropaganda ab dem späten 11. Jahrhundert wurden sie weiter getragen und richteten sich nun immer offener gegen die Mauren, die den Christen seit Jahrhunderten ein Dorn im Auge waren und die man nun schrittweise zurückzudrängen versuchte.
Im 12. und 13. Jahrhundert hatten die Christen unter den Fahnen der Reconquista und der Kreuzzüge bereits zahlreiche (und zunehmend erfolgreiche) Kämpfe gegen die Mauren ausgefochten. In den Kreuzfahrerstaaten des Heiligen Landes war die Situation nach der Schlacht bei Hattin (4. Juli 1187) prekär geworden. Die christlichen Könige auf der iberischen Halbinsel erzielten hingegen immer deutlichere Land- und Machtgewinne. Propagandaschriften wie der Apokalypsenkommentar des Beatus, aber auch Sibyllenweissagungen und apokalyptische Bildprogramme, wie sie in dem Fragment Ms. lat. fol. 341 überliefert sind, hatten nun Hochkonjunktur. Das Fragment transportiert auch die Vorstellung des Antichrist als Drachen mit sieben Köpfen, die von dem süditalienischen Apokalyptiker Joachim von Fiore (um 1130/35-1202) stammt. Hier wird jeder einzelne Kopf einem zentralen arabischen Herrscher bzw. Feldherren zugeordnet. Der Schwanz mit einem weiteren Drachenmaul gehört den biblischen Teufelsgestalten Gog und Magog. Die kommentierenden Texte und Prophezeiungen stammen aus dem süditalienisch-sizilianischen Gebiet (so z. B. eine Sibyllinenweissagung des gleichermaßen griechisch, arabisch und lateinisch-christlich geprägten Admirals Eugenius von Palermo (um 1130 – nach 1203). Der Illustrationsstil des Fragments führt jedoch eindeutig die nordspanische Beatus-Tradition fort. Dazu passt auch eine kurze Geschichte der Westgoten aus der Feder des staufisch-italienischen Historiographen Gottfried von Viterbo (um 1125 – um 1191/92). Somit trägt diese hochpolitische Sammelhandschrift auch dem Anspruch der germanisch-christlichen Könige auf Rechtsnachfolge des Römischen Weltreichs im Bereich der iberischen Halbinsel Rechnung.
Kulturelle Drehscheiben zwischen Süd- und Mitteleuropa
Nach der Gründung des Kalifats von Córdoba im 9. und 10. Jahrhundert hatten die von den Arabern vermittelten Wissenschaften in Spanien im Mittelalter eine kulturelle Hochblüte hervorgebracht. Eine bedeutende Rolle spielte dabei Toledo. In der alten Hauptstadt der Westgoten, die von den Arabern 712 erobert worden war, vermittelten deren Wissenschaftler neue oder vergessene naturwissenschaftliche und philososophische Erkenntnisse aus dem griechischen und persischen Kulturkreis (wieder) an das christliche Abendland. Ein beeindruckendes Beispiel aus dem Besitz der Orientabteilung der Berliner Staatsbibliothek ist ein Astrolabium, das hier im Jahr 1029 gefertigt wurde und arabische und hebräische Gravuren aufweist (Sprenger 2050). Astronomische Instrumente wie diese dienten dem christlich-lateinischen Mittelalter fortan zur Orts- und Zeitbestimmung.
Vermittlungsleistungen wie diese fanden in der sogenannten „Übersetzerschule von Toledo“ (12./13. Jahrhundert) ihre Fortsetzung. Neben arabischen nahmen nun auch jüdische und christliche Gelehrte am kulturellen Austausch teil, indem sie viele Werke aus dem Arabischen ins Hebräische bzw. Lateinische übersetzten. Für die Wissenschaften bedeutete dies vor allem eine Vermittlung der im Abendland lange in ihrem Gesamtspektrum unterdrückten Naturwissenschaften (Medizin, Astronomie) der griechisch-römischen Antike, symbolisiert vor allem im gewaltigen natur(philosophischen) Œuvre des Aristoteles. Ein herausragendes Objekt der Orientabteilung ist ein Kommentar zu den aristotelischen „Analytica posteriora“ aus der Feder des berühmten, in Córdoba und Marrakesch wirkenden Gelehrten Averroes (1126-1198) (Ms. or. fol. 3176). Diese Abschrift ist im 13. Jahrhundert – wenige Jahrzehnte nach dem Tod des berühmtesten aller Aristoteles-Kommentatoren – in Andalusien entstanden. Sie ist die einzige erhaltene Kopie der arabischen Urfassung. Schriften wie diese wurden von Spanien aus aus in hebräischer und lateinischer Übersetzung über die entstehenden europäischen Universitäten weiter in das christliche Abendland getragen. Eine zentrale Rolle hierbei spielte dabei die Universität Paris.
Eine umfangreiche, heute nur noch fragmentarisch erhaltene naturwissenschaftliche Sammelhandschrift der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin (Ms. lat. fol. 307), ist hier um 1160/70 enstanden. Zwar sind die meisten Übersetzer der in großer Zahl verwendeten arabischen Autoritäten hier nicht bekannt, doch mit dem jüdischen Konvertiten Johannes Hispalensis (tätig im 12. Jahrhundert) ist ein zentraler Vertreter der Übersetzerschule von Toledo vertreten. Die Handschrift gelangte von Paris aus im beginnenden Spätmittelalter, vermutlich schon um 1200, in den Besitz des ostdeutschen Prämonstratenserstifts Havelberg in der damals von französischen Kultureinflussen stark bestimmten Diözese Magdeburg.
Eine weitere medizinische Sammelhandschrift (Ms. lat. fol. 348) mit Übersetzungen des toledanischen Wissenschaftlers Gerardus Cremonensis (1114-1187) zum sogenannten „Almansor“ des Persers Rhazes (um 865-925) entstand im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts ebenfalls in einem Pariser Skriptorium. Dieses Buch gelangte nach Zwischenstationen in Schlesien Mitte des 15. Jahrhunderts in den Besitz der Domkleriker Peregrinus und Lambertus Goch in Erfurt.
Die Gebrüder Goch bevorzugten medizinische Literatur aus Frankreich. So gelangte auch ein etwas später (Ende des 13. Jahrhunderts) wohl ebenfalls in Paris entstandener Sammelcodex (Ms. lat. fol 349) aus ihrem Nachlass in das Erfurter Domstift St. Marien und von dort nach Berlin. Er enthält mehrere Kommentare zu grundlegenden Werken der griechischen Mediziner Galen (um 129/131 – um 205/215 v. Chr.) und Hippokrates (um 450 – um 370 v. Chr.) sowie des persischen Arztes Avicenna (um 980-1037). Die Übersetzungen der Hauptwerke aus dem Arabischen ins Lateinische sind ebenfalls in Toledo angefertigt worden. Die Kommentare zu Hippokrates und Avicenna gehören hingegen in das Umfeld der Universität Paris, wo der dortige Professor Johannes de Sancto Amando (um 1230-1303) an ihnen die experimentelle Medizin der Antike neu für sich entdeckte und an Wissenschaftler späterer Generationen weitergab.
Eine persönliche Apokalypse
Es mutet fast wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass die hier beschriebenen Objekte aus dem Nachlass Gottlob Heines 1848 in den Besitz der Königlichen Bibliothek zu Berlin gelangt sind. Denn der junge Historiker geriet ein Jahr nach seiner Rückkehr in seine Heimat (1847) offenbar in die Wirren der dortigen Märzrevolution hinein. Es ist bis heute nicht restlos geklärt, ob er 1848 aktiv an den Berliner Barrikadenkämpfen gegen das königliche Militär teilnahm. Ein politisches Engagement gegen die preußische Monarchie erscheint angesichts der Verbindung der Revolutionäre zu den Studierenden der deutschen Universitäten jedoch als wahrscheinlich.
Heinz Warneke hat in einem kurzen Biogramm rekonstruiert, dass Gotthold Heine am 22. März 1848 kurz nach 17 Uhr an den Folgen einer Kopfschusswunde im Restaurant Rosch in der Poststr. 2 starb. Kurz vorher hatten preußische Soldaten eine Barrikade der Revolutionäre in unmittelbarer Nähe des Gasthofes eingenommen. Fast scheint es so, dass Heines Bruder Eduard eine Restschuld der Familie gegenüber Preußen tilgen wollte, als er die genannten Handschriften des spanischen Mittelalters der Königlich Preußischen Bibliothek anbot. Wie man es auch dreht und wendet: So sehr der preußische Staat die hoffnungsvolle Karriere des Hispanisten Gotthold Heine zunächst protegiert hatte, so dürfte er diesen mit seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber der jungen Revolution in eine persönliche Apokalypse gedrängt haben, aus der es offenbar kein Entrinnen mehr gab. Die spanischen Bruchstücke sind die letzten Reste dessen, was im Original von Heines Forschungen zu Spanien im Mittelalter noch erhalten geblieben ist.
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