Digitale Lektüretipps 19: Kuratierte Datensets aus den Digitalisierten Sammlungen: Coding Gender – A Life of One’s Own?
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
Das im Folgenden vorgestellte Datenset „A Life of One’s Own“ wurde für den Kulturhackathon „Coding Gender“ zusammengestellt; weitere Informationen dazu finden Sie in unseren Digitalen Lektüretipps Nr. 5.
Datenset A Life of One’s Own? Traditionelle und alternative Lebensentwürfe
Mit der Konstruktion von Geschlechterrollen sind oft auch Lebensentwürfe verknüpft. Dies hatte gravierende Folgen, was beispielsweise den Zugang zu Bildung und die Berufstätigkeit angeht. So schrieb etwa der Halberstadter Pastor Villaume in seiner „Nachricht von einer Erziehungsanstalt für Frauenzimmer von gesittetem Stande und vom Adel“, einer Art Werbeprospekt für die von ihm geleitete Einrichtung:
Man weis, daß alle junge Mädchen von der Natur bestimt sind, dereinst Ehefrauen und Mütter zu werden; (…) Mit unserm Geschlechte ists ganz anders. Der Handwerker, der Künstler, der Kaufman, der Kriegsman, der Gelehrte (…) erfodern alle eine besondere Erziehung. (…) Es ist ein wahres Glük, daß man noch nicht dahin gerathen ist, ein Frauenzimmer so zu erziehn, wie wir erzogen werden; und daß der Name ‚gelehrtes Frauenzimmer‚ beinahe eine Satire ist. (S. 4; 6).
Diese Reduktion möglicher Lebensentwürfe von Frauen auf Ehe und Mutterschaft wurde lange Zeit als gesellschaftliches Ideal in allen möglichen Kontexten verbreitet – in kunstvoller, aber dadurch nicht weniger problematischer Form beispielsweise auch im Liederzyklus „Frauenliebe und -leben“ von Robert Schumann, basierend auf Texten Adalbert von Chamissos. In acht Liedern schildert ein weibliches Ich ihr Leben von der ersten Begegnung mit ihrem zukünftigen Mann bis zu dessen Tod. Die Verlobungszeit wird dabei folgendermaßen besungen:
Du Ring an meinem Finger, mein goldenes Ringelein,
ich drücke dich fromm an die Lippen, an das Herze mein.
Ich hatt‚ ihn ausgeträumet, der Kindheit friedlich schönen Traum,
ich fand allein mich, verloren im öden unendlichen Raum.
Du Ring an meinem Finger, da hast du mich belehrt,
hast meinem Blick erschlossen des Lebens unendlichen, tiefen Werth.
Ich will ihm dienen, ihm leben, ihm angehören ganz,
hin selber mich geben und finden verklärt mich in seinem Glanz!
Bei dieser pathetisch anmutenden Ring-Symbolik drängt sich ein Verweis auf die treffliche Satire der Ehe- und Ring-Idealisierung in Virginia Woolfs Roman „Orlando“ (1928) auf. Die zeitreisende Titelheldin wird, im 19. Jahrhundert angekommen, plötzlich von einem anhaltenden Zittern am linken Ringfinger befallen, das sich letztlich nur durch das Allzweckmittel einer Eheschließung heilen lässt. Die Musikwelt darf indes froh sein, dass Clara Wieck, die Ehefrau Robert Schumanns, sich nur wenig an das ideal von „Frauenliebe und -leben“ hielt und sich stattdessen als Komponistin und Pianistin betätigte.
Die wirtschaftliche Abhängigkeit nicht berufstätiger Frauen wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als Problem wahrgenommen. Dabei konnte sich die Bejahung einer Berufstätigkeit von Frauen durchaus mit konservativen Geschlechterkonzepten verbinden, wie etwa der 1885 erschienene Ratgeber „Die Berufswahl unserer Töchter“ des Ingenieurs Fragstein zeigt. Der Autor tritt zwar dafür ein, Frauen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und dadurch ihre finanzielle Selbständigkeit zu fördern, empfiehlt dann aber doch vor allem traditionell „weibliche“ Berufe in Textil- und Bekleidungsindustrie, Krankenpflege, Pädagogik und Hauswirtschaft. Frauen, die tatsächliche Gleichberechtigung fordern, sind ihm ebenso suspekt wie Anarchisten:
Arbeiten die Anarchisten (geprüfte Meuchelmörder) mit Dolch und Dynamit, so wird in der „Frauenfrage“ von denen, die meist gar keine richtigen Frauen sind, in verbissener Wut gegen das angekämpft, was sich durch Jahrtausende als richtig bewährt hat. (S. 3f.)
Ebenso umstritten wie die Erwerbstätigkeit war um 1900 die Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium. Neben zahlreichen Abhandlungen – mit teilweise so charmanten Titeln wie Paul Julius Möbius‘ „Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ (1900) – widmeten sich auch literarische Texte diesem Thema.
In Jakob Elias Poritzkys Novelle „Die Studentin“ (1901), die der Autor seiner Braut zugeeignet hat, wird vom Berliner Studenten Paul Basedow berichtet, der zwischen seiner Liebe zur intellektuell ebenbürtigen Kommilitonin Eugenia Madjanska und seiner Zuneignung für die naive, ihn bewundernde Kitty schwankt. Er entscheidet sich schließlich für eine Ehe mit Kitty; die Studentin Eugenia wird darüber wahnsinnig. Doch nicht nur das tragische Ende, auch bereits die Charakterisierung Eugenias zu Beginn der Novelle rückt die studierende Frau in ein etwas schiefes Licht:
Eugenia Madjanska hospitierte bereits mehrere Semester an der Universität als Studentin der Philosophie (…). Manchmal wurde ihr bang in all diesen transzendenten Höhen. Und dann – es gab so eine Masse Bücher. In der königlichen Bibliothek allein eine Million. (…) Aber man (…) wollte ja einmal Etwas werden, eine soziale Stellung erringen, Lehrerin werden, oder Erzieherin, oder – gleichviel! irgend etwas, um selbständig zu sein. (S. 5f.)
Der Drang zur Selbständigkeit verfliegt, sobald Eugenia sich in Paul Basedow verliebt:
Von dem Tage ab, an dem er sie so männlich dreist um das Rendez-vous bat, hatte sie keine ruhige Minute mehr (…). Ihr Denken und Sinnen war Basedow. (…) Darum begrüßte sie es als ein glückliches Zeichen, daß er sie um ein Rendez-vous bat, von dem sie freudigpochenden Herzens heimgekehrt war und das ihr die plötzliche Erkenntnis brachte, daß sie nicht dazu geboren war, als Lehrerin in irgend einem Neste zu versauern, sondern als liebendes Weib eines Mannes, das heißt Basedows, Gefährtin zu werden und seine Schicksale zu teilen. (S. 52f.)
Ganz anders präsentiert dagegen Lou Andreas-Salomé die Studentin Fenitschka in ihrer gleichnamigen Erzählung (1898).
Die Figurenkonstellation weist Ähnlichkeiten zu Poritzkys Novelle auf, indem sich hier der junge Wissenschaftler Max Werner in die Studentin Fenitschka verliebt, obwohl er studierende Frauen eigentlich nicht ganz ernst nimmt:
„Ich (…) bin eben erst der Bücherstudiererei entlaufen wie dem ärgsten aller Frondienste. Und Sie – ein Weib – spannen sich freiwillig hinein.“ – „Warum soll denn das ein Frondienst sein? (…) Für uns Frauen, – für uns, die wir erst seit so kurzem studieren dürfen, ist es durchaus nicht so (…). Wer von uns sich dem Studium hingiebt (…) erobert nicht nur Wissen, sondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen.“ (…) „Ja, wissen Sie denn, was das beweisen würde, wenn es wirklich so ist?“ fragte er ärgerlich, und studierte dabei mit verliebtem Wohlgefallen den Ansatz des braunen Haares an ihren Schläfen, der eine reizende kleine Linie bildete; „es beweist einfach, daß Ihr Geschlecht zurück ist, daß es da lebt, wo wir vor Jahrhunderten standen.“ (S. 18f.).
Fenitschka lässt sich davon nicht irremachen und weist in der Folge nicht nur Max‘ Avancen ab, sondern trennt sich später auch von ihrem Geliebten, der sie heiraten will. Die intellektuelle Unabhängigkeit und ein selbstbestimmtes Leben stehen an erster Stelle und sind für sie mit der Ehe nicht zu vereinbaren:
Ich konnte (…) auch gar nicht [heiraten] wollen! (…) will es ein junger Mensch zum Beispiel, der seine ganze Jugend drangesetzt hat, um frei und selbständig zu werden, – der nun grade vor dem Ziel steht, – auf der Schwelle, – um des Berufslebens willen, um der Verantwortlichkeit willen, um der Unabhängigkeit willen! – Nein! Ich kann es mir einfach nicht als Lebensziel vorstellen, – Heim, Familie, Hausfrau, Kinder, – es ist mir fremd, fremd, fremd! (…) Liebe und Ehe ist eben nicht dasselbe. (S. 80)
Eine Übersicht aller Dokumente des Datensets „A Life of One’s Own“ finden Sie hier.
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