Klappe(r)n gehört zum Digitalisierungshandwerk – ein neues DFG-Projekt zur 3D-Visualisierung historischer Spielbilderbücher

Seit einigen Jahren erlebt die textuelle Materialitätsforschung einen rasanten Aufschwung, wodurch beschriftete Artefakte in ihrer Dinghaftigkeit ins Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses rücken. Im Zuge dieses Material Turn findet das mindestens zwischen mittelalterlichen Volvellen und zeitgenössischen Pop-up-Comics aufgespannte Feld der Bewegungsbücher und kinetischen Buchobjekte besondere Aufmerksamkeit von Seiten sowohl der literatur- und kunstwissenschaftlichen als auch der buch-, technik- und bildungshistorischen Forschung. Vom Standardkodex unterscheiden sich Bewegungsbücher durch ihre flexiblen Bedienelemente – meist Ziehlaschen oder Drehscheiben – bzw. durch ihre charakteristische Interaktivität jenseits der konventionellen Buchnutzung. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für Genese und Ausdifferenzierung dieser keineswegs marginalen Mediengattung rücken dabei zunehmend die zwischen Buch und Spielzeug changierenden Spielbilderbücher in den Fokus der Forschung.

Als diskursbestimmend haben sich in diesem Zusammenhang vor allem Untersuchungsansätze erwiesen, die auf die historischen Modi der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit von Heranwachsenden zielen. Über die textuellen und ikonischen Inhalte hinaus wird dabei häufig die Frage nach dem im- und expliziten Wissen gestellt, wie es etwa die um 1900 weltbekannten, da in ihrer papiermechanischen Umsetzung bahnbrechenden Spielbilderbücher Lothar Meggendorfers auch über taktile Kanäle bzw. ihre materialspezifische performative Affordanz erfahr- und im Wortsinn begreifbar machen. Dagegen thematisieren literaturwissenschaftliche Studien häufig die Beziehung zwischen Texten, Bildern und Papiermechanik sowie die narrative Dimension von Bewegungsmechanismen und Bucharchitekturen, während Publikationen zur Medienästhetik von Spielbilderbüchern eher die latente Semantik technischer Effekte aufzudecken versuchen – gerade auch in Hinblick auf die Rekonstruktion der mediengenetischen Traditionslinien zwischen historischem Spielbilderbuch und Video Game, wie sie aktuell ein von der Staatsministerin für Kultur und Medien gefördertes Forschungs- und Ausstellungsprojekt an der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) unternimmt.

Das Interesse der SBB an dieser Thematik erklärt sich im Wesentlichen daraus, dass ihre etwa 1.600 Werke umfassende Sammlung historischer Spielbilderbüchern zu den nach Umfang wie Differenzierungsgrad international herausragenden zählt – vergleichbar nur mit den Beständen von Victoria and Albert Museum London, Deutschem Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und Spielzeugmuseum Salzburg. Von einzelnen Sonderformen abgesehen, ist insofern davon auszugehen, dass die in der SBB verfügbaren Titel das gesamte typologische Spektrum an Spielbilderbüchern dokumentieren, das in zahlreichen Binnenstufungen zwischen den beiden Polen des am Ende der Aufklappbewegung statischen Objekts einerseits (z.B. Aufstellbilderbuch) sowie des sich sowohl im Verlauf seiner Ausfaltung dynamisch verändernden als auch danach noch mobilen Objekts (etwa Spielbilderbuch mit Steckfiguren) andererseits aufgespannt ist. Während die zuerst genannten Buchobjekte im ausgefalteten Zustand kaum mehr Interaktion zulassen, ist die zuletzt angesprochene Kategorie von Spielbilderbüchern durch das Vorhandensein flexibler, zur Bewegung einladender Elemente charakterisiert, die eine mechanisch-performative Gestaltung der dargestellten Szenerie nicht nur ermöglichen, sondern sogar dazu auffordern.

Um das Fundament für die Open Access-Transformation dieses Bestandssegments zu legen, konnte die SBB 2018 im Rahmen des eHeritage-Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ein Konzept zur wissenschaftsgeleiteten Digitalisierung kinetischer Buchobjekte entwickeln. In der Absicht, den erforderlichen Ressourcenaufwand zu minimieren, favorisiert dieses ein additives Präsentationsszenario, in dem sich aus der synoptischen multimodalen Zusammenschau von 2D-Digitalisaten, Videoaufzeichnungen musterhafter Spielsequenzen sowie interaktiven 3D-Darstellungsformen ein möglichst präziser Eindruck von Materialität und Inhalt des betreffenden Bewegungsbuchs ergibt. Die konkreten Empfehlungen besagter Konzeptstudie wurden in Kooperation mit dem NFDI4Culture-Konsortium, in dessen Kontext SBB und Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) den Bereich der 3D-Digitalisierung mitverantworten, sowie der Deutschen Nationalbibliothek jüngst nochmals auf ihre Praxistauglichkeit sowie im Dialog mit Forschenden verschiedener Disziplinen – von Buch- und Kunstwissenschaften bis Komparatistik – auf ihre Wissenschaftsadäquanz überprüft.

Fünf Jahre später soll es nun im Verbund mit NFDI4Culture und ZEDIKUM, der Core Facility der SPK auf den Feldern von 3D-Digitalisierung und -Visualisierung, tatsächlich losgehen. Denn dieser Tage wurde der SBB zu unserer großen Freude von Seiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft der Projektantrag Pop-up 3D – Digitalisierung und interaktive Visualisierung historischer Spielbilderbücher in wissenschaftsgeleiteter Praxis im inzwischen auch für nicht-textuelle bzw. dreidimensionale Objekte geöffneten Förderprogramm Digitalisierung und Erschließung bewilligt. Primäres Ziel des Projekts ist es, der expandierenden Bewegungsbuchforschung 100 Spielbilderbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus dem gemeinfreien Bestand der SBB dauerhaft im Open Access zur Verfügung zu stellen. Ausgewählt wurde das Werksample in der Absicht, ein sowohl für historische Entwicklung und Formvielfalt dieser Mediengattung als auch für das typologische Spektrum kinetischer Buchobjekte insgesamt repräsentatives Referenzkorpus zu schaffen. Als zentraler innovativer Impuls dieses Vorhabens soll im Interesse ihrer wissenschaftsadäquaten digitalen Replikation die charakteristische Interaktivität der in den Blick genommenen Werke in ihrer unterschiedlichen Papiermechanik erhalten werden – unter Schaffung der Möglichkeit, beliebige Bewegungssequenzen für Dritte reproduzierbar zu machen und persistent zu adressieren. Denn nicht-zitierfähige Präsentationsmodi historischer Spielbilderbücher werden von Forschenden verschiedener Disziplinen ebenso einhellig als unzureichend bewertet wie nicht-interaktive. Als sekundäres Projektziel möchte unser Vorhaben darüber hinaus einen Beitrag zur Etablierung von generischen Standards der wissenschaftsgeleiteten digitalen Replikation dynamisch-interaktiver Kulturobjekte wie Astrolabien, Retabeln und Automaten leisten – idealerweise unter Beteiligung am Prozess der selbstorganisierten Weiterentwicklung der DFG-Praxisregeln Digitalisierung.

Auswahlbibliographie

Christian A. Bachmann u.a. (Hg.): Bewegungsbücher: Spielformen, Poetiken, Konstellationen, Berlin 2016.

Christian A. Bachmann: Scenes from the Digital Paperverse: Interactive Books in the Context of Digital Games, in: Journal of Interactive Books 2 (2023), S. 1-15, https://doi.org/10.57579/2023.1.

Katarzyna Bazarnik u.a. (Hg.): Refresh the Book: On the Hybrid Nature of the Book in the Age of Electronic Publishing, Leiden 2021.

Hannah Field: Playing with the Book. Victorian Movable Picture Books and the Child Reader, Minneapolis 2019.

Ernst Hofmann: Das „sprechende Bilderbuch“ und sein Erfinder Theodor Brand, Dresden 2018.

Suzanne Karr Schmidt: Interactive and Sculptural Printmaking in the Renaissance, Leiden 2017.

Christian Mathieu: Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Digitalisierung und textuelle Materialitätsforschung, in: Informationspraxis 5 (2019), https://doi.org/10.11588/ip.2019.2.63479.

Carola Pohlmann: Kein Kinderspiel: Spiel- und Bewegungsbilderbücher vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Imprimatur: Jahrbuch der Gesellschaft der Bibliophilen 24 (2017), S. 37-60.

Jacqueline Reid-Walsh: Interactive Children’s Texts and Movable Books: Playful Media before Pop-Ups, New York 2018.

Jacqueline Reid-Walsh: An Anatomy of Movable Delights: Analyzing Selected 18th -21st Century Interactive Books from a Comparative Media Approach, in: Journal of Interactive Books 1 (2022), S. 88-103, https://doi.org/10.57579/2022JIB008JRW.

Monika Schmitz-Emans: Wendebücher – Spiegelbücher: über Kodexarchitekturen in der Buchliteratur, Berlin 2018.

Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium, Berlin 2019.

Monika Schmitz-Emans: Buchtheater: Spielformen, Konzepte und Poetiken des Buchs als Theater in Buch- und Literaturgeschichte, Hildesheim 2022.

Christoph Benjamin Schulz (Hg.): Die Geschichte(n) gefalteter Bücher: Leporellos, Livres-Accordéon und Folded Panoramas in Literatur und bildender Kunst, Hildesheim 2019.

Christoph Benjamin Schulz: Von einem Phänomen der Buchgeschichte zur Herausforderung für die Digital Humanities: Leporellos in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Sebastian Schmideler/Wiebke Helm (Hg.): Bild-Wissen – KinderBuch: Historische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche und ihre digitale Analyse, Stuttgart 2021, S. 23-44.

4 Kommentare
  1. Morgenstern sagte:

    Auch wenn es nur eine Auswahlbibliographie ist erscheint sie wenig repräsentativ. Darunter sind Titel wie die Arbeiten von Monika Schmitz-Emans, die (bei aller Wertschätzung) vorwiegend Destillate aus anderen Werken sind, hier insbesondere Peter Haining und keine neuen Erkenntnisse vermitteln. Haining fehlt hier aber (ein Standardwerk!) ebenso wie viele weitere für die Erscheinung des Spielbilderbuches grundlegende Studien etwa von Starost, Pelachaud, Krahé, Katzenheim/Friedrich (Meggendorfer / Bibliographie Lebende Bilder), Crupi, Haining, Reiche, Ries, Buijnsters und Buijnsters-Smets, Gubig/Köpcke, Katalog Turin 2019, Montanaro, Findlay/Rubin, Pietro Franchi, Pazaurek und noch etliche weitere. Kann die Auswahl überarbeitet und ergänzt werden?

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    • Christian Mathieu
      Christian Mathieu sagte:

      Lieber Morgenstern,

      vielen Dank für diese hilfreichen Ergänzungen. Wie Sie ja selbst anmerken, handelt es sich bei dieser Liste nur um eine Auswahlbibliographie der jüngsten Werke zum Thema, mit der die aktuelle Forschungsrelevanz unseres Vorhabens dokumentiert werden soll.

      In Kürze wird übrigens im Kontext unserer Ausstellung ‚Play it again – Vom Spielbilderbuch zum Videospiel‘ eine umfassende Bibliographie zur Mediengeschichte von Bewegungs/Spielbilderbuch und Video Game veröffentlicht. Eine ältere Fassung finden Sie via: https://www.zotero.org/groups/1747477/beweb3d/library

      Die angekündigte Bibliographie soll den Begleitband zu besagter Ausstellung ergänzen, mit dem wir selbst einen Beitrag zur Bewegungsbuchforschung leisten wollen.

      Über das Erscheinen von Bibliographie und Begleitband – selbstverständlich im Open Access – werden wir via SBB Blog informieren.

      Ihnen bis dahin eine gute Zeit und viele Grüße,

      Christian Mathieu

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  2. Gernot Vollmer sagte:

    Ein interessantes Projekt, viel Erfolg dafür! Gleichwohl ist anzumerken:

    Die Auswahl der 100 Spielbilderbücher soll dem post zufolge ein sowohl für die historische Entwicklung und Formvielfalt dieser Mediengattung als auch für das typologische Spektrum kinetischer Buchobjekte insgesamt repräsentatives Referenzkorpus schaffen. Bei Durchsicht der Liste zeigt sich jedoch, daß nur Werke bis etwa Mitte 1950 berücksichtigt sind. Verständlich unter dem Gesichtspunkt der Gemeinfreiheit, aber damit ist die Auswahl nicht wie dargelegt insgesamt für die Historie und die Formenvielfalt repräsentativ. Die Entwicklung der etwa letzten 60 Jahre bleibt aussen vor, die tschechische Schule (Kubasta, Pavlin – Seda, Trnka) fehlt, ebenso die innovative amerikanische und zuletzt die so bdeutsame französische und inTeilen asiatische Szene. . Gerade die letzten 10 Jahre sind so lebendig (neue Materialien, Techniken, operational devices, neue handlings) wie gefühlt die 150 Jahre davor. Repräsentativ ist das also nicht. Leider hat die Staatsbibliothek hier von wenigen Ausnahmen abgesehen aber auch keine entsprechenden Erwerbungen vorgenommen – die Entwicklung wurde hier weitgehend übersehen.

    In der Auswahl nicht berücksichtigt sind einige typische Formen dieses Genres, etwa Werke mit zerlegbaren Bildern (ab 1880 Schreiber, Löwensohn und andere haben hiermit Weltgeltung erlangt), Karusselbücher fehlen (exemplarisch für diesen Typus etwa das Krenn’sche Theater Album von 1944, ist auch um Bestand der Staatsbibliothek) und einige weitere Typen mehr. Sorry, wenn etwas übersehen wurde.

    Stichwort ‚typologisches Spektrum‘. Ist im Rahmen der wohl seit 2018 laufenden Vorarbeiten eigentlich eine gesicherte Typologie erarbeitet worden, die ja bislang fehlt?

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  3. Christian Mathieu
    Christian Mathieu sagte:

    Sehr geehrter Herr Vollmer,

    haben Sie vielen Dank für die netten Glückwünsche und vor allem für Ihre kenntnisreichen und für uns ausgesprochen wertvollen Anmerkungen.

    Unter technischem Aspekt ist unser Vorhaben schon herausfordernd genug, weshalb ich auf Ihr Verständnis für unsere Entscheidung vertraue, nur gemeinfreie Werke zu berücksichtigen. Dass unsere Auswahl insofern nur repräsentativ für die Entwicklung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sein kann, versteht sich.

    Was Ihre Vorschläge zur Ergänzung unserer Werkauswahl betrifft, so sollten wir diese am besten gemeinsam mit Carola Pohlmann, der Leiterin unserer Kinder- und Jugendbuchabteilung, diskutieren. Vielleicht wollen Sie mir eine E-Mail mit Terminoptionen für eine Webkonferenz senden – vielen Dank! (Vorname.Nachname@sbb.spk-berlin.de)

    Die von uns vorgeschlagene Typologie entspricht den 16 Kategorien unserer Auswahlliste: https://blog.sbb.berlin/wp-content/uploads/Digitalisierungskorpus_Pop-up.pdf

    Auch diese können wir sehr gerne im Rahmen unseres eventuellen Austauschs diskutieren.

    Ich freue mich darauf und sende Ihnen einstweilen meine besten Grüße

    Christian Mathieu

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