War das frühneuzeitliche Polen ein Bärenland?

Gastbeitrag von Dr. Jacek Kordel

Jacek Kordel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Warschau, interessiert sich für das Bild der polnisch-litauischen Adelsrepublik im Jahrhundert der Aufklärung.  Er untersucht die antipolnische Propaganda, die in der Epoche der drei Teilungen (1772, 1793, 1795) von den Teilungsmächten, besonders von den Höfen in Petersburg und Berlin, in einem geringeren Umfang auch in Wien, betrieben wurde. Sie sollte die politischen Maßnahmen Russlands, Preußens und Österreichs begründen und rechtfertigen. Die Forschung Kordels setzt sich zum Ziel, die „mediale Polenpolitik“ Friedrichs des Großen und Katharinas der Großen zu analysieren und die Frage zu beantworten, auf welche Art und Weise und in welchem Ausmaß an der Newa und an der Spree versucht wurde, die aufgeklärte Öffentlichkeit – Philosophen, Schriftsteller, Historiker und Dichter – zu inspirieren, zu beeinflussen und für die eigenen Zwecke zu gewinnen. Die propagandistischen Mittel basierten weitgehend auf Vorurteilen, sowohl auf den konstruierten, d. h. von oben herab entwickelten und weitergegebenen Bildern, als auch auf den realen Vorstellungen, die in der Gesellschaft tief verwurzelt waren. Eine davon bildete im frühneuzeitlichen Europa das Bild Polens als eines Bärenlandes.

Völkertafel / um 1725 in der Steiermark entstandenes Gemälde(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:V%C3%B6lkertafel.jpg) - Nutzungsbedingungen: https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/

Völkertafel

Beginnen wir mit der „Kurzen Beschreibung der in Europa befindlichen Völker und ihrer Eigenschaften“, der sogenannten Völkertafel, einer Anfang des 18. Jahrhundert in der Steiermark entstandenen illustrierten Zusammenstellung von zehn europäischen Nationen. Jedes Volk wird in einer Tabelle durch 17 Eigenschaften gekennzeichnet. Unter diesen Kategorien finden wir u. a. „Natur und Charakter“, „Verstand“, „Wissenschaften“, „Kleidung“, „Untugenden“, „Kriegstugenden“. In der Kategorie „Gegenstück in der Tierwelt“ wurden die Polen mit einem Bären verglichen.

Dies lässt sich zweifellos auf die verhältnismäßig große Bärenpopulation in den polnischen und litauischen Wäldern zurückführen. Ein Bär, eines der mächtigsten Tiere, die in den Forsten des alten Kontinentes lebten, stellte ein Symbol für die Größe und die Stärke des polnisch-litauischen Staatsverbands dar. Es ist nicht auszuschließen, dass er gleichzeitig auf die rohen Sitten und unedlen Bräuche seiner Bewohner hinwies. Eine Rolle konnten auch etymologische Überlegungen spielen. Als Sebastian Klonowic, ein polnischer Schriftsteller und Dichter, gegen Ende des 16. Jahrhunderts Rotruthenien beschrieb, verwendete er ein lateinisches Wortspiel: Russia-Ursia:

Russia, si mutes apices ex ordine primos,

Non inconveniens Ursia nomen erit.

[Russia – sobald du die ersten Buchstaben vertauschst,

kommt ein passender Name für das Bärenland heraus – Ursia.]

Klonowic, Sebastian: Roxolania : Bl. 16v – Quelle: Polona – Lizenz: Domena Publiczna

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Sebastian Klonowic], Roxolania, Cracoviae 1584, Bl. 16v, s. a. in Polona, der digtalen Bibliothek der Biblioteka Narodowa: https://polona.pl/item/roxolania-sebastiani-svlmyrcensis-acerni,ODczMzIzOA/2/#info:metadata

Klonowic, Sebastian: Roxolania : Titelblatt – Quelle: Polona – Lizenz: Domena Publiczna

Wappen Samogitiens / Bastian (vector version) – Nutzungsbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/

 

Den Bären finden wir auch in der Heraldik. Als Stadtwappen von Vilnius wurde er in der Chronik des Konzils von Konstanz (1414-1418) dargestellt. Ein schwarzer Bär auf grünem Wappenschild wurde lange als eines der gleichberechtigten Hoheitszeichen des Großfürstentums Litauen betrachtet. Während das Wappen Pogoń, ein weißer Ritter auf einem springenden Pferd, den Bären aus seiner Stellung verdrängte, etablierte dieser sich, in Rot, als Wappenzeichen Samogitiens. Auf den Siegeln der litauischen Großfürsten tauchte ein Bär als Symbol für die Kiewer Rus auf. Erst am Ende des Mittelalters wurde der Bär allmählich durch das Bild des Erzengels Michael ersetzt. Es ist aber zu beachten, dass noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Ansicht vertreten wurde, dass das eigentliche Wappen der Woiwodschaft Kiew eine aus einem Engel und einem Bären zusammengesetzte Hybride gewesen sei.

 

Der Bär gilt heute als ein Sympathieträger. In der europäischen Schatzkammer der Motive und Symbole repräsentierte er jedoch eher negative Elemente. In der kirchlichen Tradition wurde der Bär mit dem Teufel, dem Vollstrecker der ewigen Verurteilung assoziiert, stellte ein Symbol für böse Mächte und Dämonen dar, die aus der Hölle zur Erde geschickt wurden. Mit dem Stempel der Teufelei war auch der Wolf gekennzeichnet, der auf der Völkertafel mit Ungarn identifiziert wurde, und ebenso der Fuchs, der hier die Franzosen versinnbildlichte. Die Deutschen wurden wiederum durch einen Löwen symbolisiert, der auch mit dem Teufel verglichen wurde, obwohl er gleichzeitig auch ein Bild von Christus, der den Teufel besiegte, darstellen konnte. Die Bären waren Geschöpfe der teuflischen Gewalt, die das Gottesvolk bedrohten. Wenn sie nicht den Teufel selbst symbolisierten, verkörperten sie verschiedene Sünden, besonders die Hauptsünden, vor allem Lust, Stolz, Gewalt, Wut und Faulheit. In der polnischen Tradition wurden die Bären manchmal auch mit den Sündern verglichen. In dieser Konfiguration wurde die Rolle des Teufels durch den Bärenführer übernommen.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stießen die polnischen Bären auf reges Interesse in fast ganz Europa. Dies ist den Geschichten von Kindern, die in den litauischen Urwäldern verloren oder verlassen und von Bären aufgezogen wurden, zu verdanken. Verbreitet wurden sie ganz eifrig von den zahlreichen in Polen weilenden Ausländern.

Antoine de Gramont, ein Sohn des Marschalls von Frankreich, der sich während der Herrschaftsjahre Johann Kasimirs II. (1648-1668) in der polnisch-litauischen Adelsrepublik aufhielt, beschrieb den Fall eines Jungen, der 1663 den Bären fortgenommen und nach Warschau gebracht worden sei. Die litauischen Bauern aus der Nähe von Vilnius oder Kaunas mögen während einer Bärenjagd ein Weibchen mit ein paar Kleinen und einen mehrjährigen Jungen erblickt haben. Er sei ganz nackt gewesen, auf allen Vieren gegangen, habe Gras gegessen und Tiersprache gesprochen. Auf Befehl der Königin Luisa Maria Gonzaga sei das Kind in die Hauptstadt gebracht und den Barmherzigen Schwestern zur Erziehung übergeben worden. In einem Zeitraum von mehreren Monaten hätte er jedoch kein Wort auf Polnisch gelernt und nur solche Geräusche gemacht, die dem Bärengebrüll ähneln. Das Kind habe ernsthafte Schwierigkeiten gehabt, aufrecht zu bleiben, und hätte sich eher wie ein Tier bewegt. Einmal, schrieb der Franzose, als ihm ein im königlichen Palais gezüchteter Bär gebracht worden sei, habe er an ihm mit größter Zärtlichkeit angelegen. Als er danach eine große Portion rohes Rindfleisch bekommen habe, hätte er es gierig geschlungen. Abgesehen davon, dass er keine Klauen hatte und menschlicher Gestalt war, war er nach de Gramonts Meinung in Aussehen, Bräuchen, Geschmack und Kommunikationsart ganz tierisch. Seinen Bericht krönte er mit dem Schluss, dass ein Mensch, der von Anfang an durch Tiere erzogen worden sei, für das ganze Leben ein Tier bleiben müsse.

Viele Ausländer schenkten diesen Geschichten Glauben, darunter auch Bernard Connor, ein irischer Naturforscher, Hofarzt des polnischen Königs Johann III. Sobieski (1674-1696). In seiner „Beschreibung des Königreichs Polen und Groß-Herzogthums Litthauen” notierte der Ire: „Dieses versicherte mich der König selbst nebst unterschiedlichen reichs-räthen und andern hohen personen des königreichs. Ja, es ist der gemeine und ungezweiffelte bericht im gantzen königreiche. Ferner sagen sie auch, daß, wenn ein hungriger bär männliches geschlechts ein kind, welches man aus sorglosigkeit irgendswo liegen lassen, finde, er solches alsofort zerreisse; finde aber eine säugende bärin dasselbige, werde sie es alsofort in ihre höle tragen und nebst ihren jungen säugen und erziehen, welches dann offt nach einiger zeit von denen jägern gefangen und aus ihren klauen errettet werde.“ [Bernard Connor, Beschreibung des Königreichs Polen und Groß-Hertzogthums Litthauen, Bd. 1, Leipzig 1700, S. 390]

Darstellung einer Bärin, die ein verlassenes Kind säugt. Aus: Connor, Bernard : The History of Poland. – London, 1698, nach S. 342. – Public Domain

Die Entführung eines Kindes, meist eines Jungen, der in der Bärenhöhle von Jägern gefunden und befreit wird, kommt in der Volksüberlieferung vieler Länder vor. Die Sagen über „Bären-Kinder“ wurden in verschiedenen Kulturkreisen erzählt. Im Mittelalter manifestierte sich das Motiv der „Bären-Söhne“ vor allem in der angelsächsischen und skandinavischen Literatur, trat aber auch in anderen Traditionen auf. Geschichten über Kinder, die von Bären entführt, gefüttert und versorgt wurden, waren auch in der frühen Neuzeit bekannt. Besonders lebendig war dieses Thema in Skandinavien, in der Türkei, unter den Völkern Sibiriens und den nordamerikanischen Indianern. Am Beispiel der Sagen über die „Bären-Kinder“ können wir den Mechanismus betrachten, wie die Vorstellungen über verschiedene Länder und Nationen gestaltet, wiederholt und gefestigt wurden. Glauben wurde verschiedenen, nicht selten ganz unwirklichen Geschichten geschenkt. In den Reiseberichten und geographischen Kompendien wurden zahlreiche Mirabilien erwähnt, überraschende und seltsame Phänomene beschrieben. Nicht ohne Bedeutung war die Rücksicht auf den Leser, der phantasieanregende Berichte über die vom Menschen noch nicht erforschten Gebiete und Gelände wünschte.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die polnisch-litauische Adelsrepublik immer noch mit den Bären assoziiert. Als Georg Forster, ein bekannter Naturforscher und Weltumsegler, 1784 an die Universität Vilnius als Professor für Naturgeschichte berufen wurde, schrieb er an seinen Freund Friedrich Justina Bertuch: „Wissen Sie schon, daß ich Cassel auf immer verlasse, und unter die Bären in Litthauen ziehe“ [Georg Forster an Friedrich Justina Bertuch, Kassel, 2. April 1784, Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe; Bd. 14 : Briefe 1784 – Juni 1787, bearb. von B. Leuschner, Berlin 1978, S. 37].

In der Epoche der drei Teilungen Polens finden wir in der aufgeklärten Debatte den Bären nicht. In den preußischen, russischen und österreichischen Schriften, die die Tilgung der Adelsrepublik von der europäischen Landkarte begründen und rechtfertigen sollten, taucht das Tier nur indirekt auf.  Insgesamt ergibt die Publizistik der Teilungsmächte das folgende Bild: Der polnisch-litauische Staatsverband sei ein großer, aber schwerfälliger und klobiger Körper gewesen, mit einer in Lethargie gefallenen Gesellschaft, die wilde und rohe Sitten und Bräuche kultiviert hätte. Ist eine Assoziation mit dem Bären berechtigt?

In dieser Hinsicht wurde Polen erst im 19. Jahrhundert durch Russland ersetzt, in dem wir heutzutage unbestreitbar ein Bärenland sehen.

 

Herr Dr. Jacek Kordel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Warschau, war im Rahmen des Stipendienprogramms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Jahr 2018 als Stipendiat an der Staatsbibliothek zu Berlin. Forschungsprojekt: „Die polnisch-litauische Adelsrepublik in der aufgeklärten Öffentlichkeit. Polen in der preußischen und russischen Propaganda (1763-1795)“

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