Caprice: eine Delikatesse! Zum dadaistischen Potential historischer Schriftproben
Der Lore-Ipsum-Blindtext als kanonischer Platzhalter des digitalen Zeitalters hatte in der Gutenberg-Galaxis sein Äquivalent im Vaterunser – zumindest bis zur Pluralisierung dieser sehr pragmatischen Textgattung im 19. Jahrhundert. Besonders eindrücklich dokumentieren Schriftproben diese Entwicklung, also jene Musterbücher mit einem Umfang von wenigen Blättern bis zu vielen hundert Seiten, mit deren Hilfe Gießereien und Druckereien ihr jeweiliges Angebot an Schriften, Zeichen und Zierelementen vermarkteten. Denn parallel zum Bemühen der Unternehmen, den spezifischen Charakter einer Schrift mit einem möglichst sprechenden Namen abzubilden – das Spektrum ist dabei mindestens zwischen Comteß-Lola und Signal aufgespannt –, kamen Nonsens-Blindtexte mit inszenatorischen Ambitionen in Mode.
Wie Thomas Rahn im Rahmen unseres Forschungsdialogs zur Materialität von Schriftlichkeit vorführte, wurden die neuen Entwürfe vermittels derartiger Blindtexte gezielt mit konkreten semantischen Feldern verknüpft und letztlich mit einem Programm aufgeladen, das sogar bis zur Ideologisierung einiger Schriften als deutsch reicht. Andererseits erkennt der Komparatist von der Freien Universität Berlin in solchen frei assoziierten Wortfolgen wie Blusen, Weinbrand, Stanzmaschinen oder Rheinland, Nauheim, Radio Züge einer typographie automatique, womit er die Nonsens-Inhalte historischer Schriftproben in die Nähe des von den Zürcher Dadaisten um Tristan Tzara und Hans Arp entwickelten automatischen Schreibverfahrens rückt.
Um das dadaistische Potential historischer Schriftproben zu entfalten und Ihnen die Spezifik dieser Gattung akustisch zu vermitteln, hat Katharina Walter mit freundlicher Unterstützung des Hans-Otto-Theaters Potsdam das Podcast-Feature Schriftschwärmer – die bunte Warenwelt der Schriftproben realisiert. In ihrer Doppelqualifikation als Kommunikationsdesignerin und Kultur- und Medienwissenschaftlerin gehört sie nämlich dem wissenschaftlichen Beirat des kürzlich abgeschlossenen Projekts Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access an. Ziel dieses im Landesdigitalisierungsprogramm digiS-geförderten Gemeinschaftsvorhabens von Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH, Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin und Staatsbibliothek zu Berlin ist es, einen für Wissenschaft, Kreativwirtschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen relevanten Beitrag zu Erhalt, Zugänglichkeit und Visibilität (oder hier eher: Hörbarkeit) des so reichen typografischen Kulturerbes der Hauptstadt in seiner materialen wie visuellen Vielfalt zu leisten.
Ja, mehr noch! Welche geradezu babylonischen Ausmaße die Schriftverwirrung in Berlin um 1920 hatte – Walter Benjamin bezeichnet wohl nicht ohne Grund die Großstadt als mediale Apokalypse –, können Sie in einem zwanzigminütigen Hörspaziergang unter kundiger Führung von Katharina Walter bzw. im Klangraum einiger von der Schauspielerin Ulrike Beerbaum und dem Sounddesigner Marc Eisenschink kongenial interpretierter Schriftprobentexte aus dieser Zeit erleben.
Ein Podcast-Feature zur Gattung der Schriftprobe, das kann sich hören lassen? In der Tat – und zwar gleich hier! Aber achten Sie bitte auf Ihre Ohren: Denn Sie werden die Bekanntschaft nicht nur einer Fanfare von größter Schlagkraft machen, sondern auch von Frakturschriften, die in ihrer wuchtigen Schönheit alles laut übertönen.