Apfel „Cellini“ (Gaucher, N.: Pomologie des praktischen Obstbauzüchters © Public Domain Mark 1.0)

Das besondere Objekt: „Pomologie des praktischen Obstbaumzüchters“ von Nicolas Gaucher (1894)

Die Blog-Reihe „Das besondere Objekt“ möchte Ihnen in lockerer Folge besondere Titel aus den Beständen der Staatsbibliothek vorstellen. Unterschiedlichste Themen sollen zur Sprache kommen und werden Sie vielleicht in unsere Lesesäle locken – und diesmal zu einem Ausflug anregen!

„Pomologie des praktischen Obstbaumzüchters“
von Nicolas Gaucher

„Getragen von dem Bewusstsein, dass der Obstbau nur dann voll und ganz ausgebeutet werden kann, wenn von den besten Sorten nur die allerbesten angebaut werden, habe ich […] das Hauptaugenmerk auf die Besprechung und natürliche Veranschaulichung der empfehlenswertesten Sorten gerichtet.“ (Vorwort von Nicolas Gaucher, 1894)

Preußische Geschichte in Apfelform

1651, Gerrit Willemsz. bpk / Gemäldegalerie, SMB / Christoph Schmidt

Ein reich illustriertes Prachtwerk über Obst wie dieses vorzulegen, wäre 300 Jahre zuvor niemandem in den Sinn gekommen. Die Fürsten mochten Äpfel, Birnen und Beeren auf ihren Tischen schätzen – die Bevölkerung wollte vor allem eines: satt werden. Und satt zu werden, das war aus verschiedenen Gründen ein Problem. Bevor wir uns Gauchers Pomologie widmen, beginnen wir daher in der Eiszeit. Genauer: In der Kleinen Eiszeit, die aufgrund von historischen Aufzeichnungen und Eiskernbohrungen zwischen 1570 und 1700 angesiedelt wird, und in der es durchschnittlich 2 Grad kälter war als im 20. Jahrhundert. Es gab Sommer ohne Sonne, Frostwinter von November bis April, dann wieder Gluthitze im Sommer und endlose Regenfälle im Herbst. Schlechte Ernten und Hungersnot waren die Folge. Vielleicht konnte sich das Stillleben deshalb zu einer eigenen Kunstrichtung entwickeln – essbare Kostbarkeiten der Natur als Zeichen der Vergänglichkeit in unsicheren Zeiten? Zu allem Wetterelend kamen die Zerstörungen durch Schlachten und Belagerungen, etwa im Dreißigjährigen Krieg.

Die Bevölkerung in Preußen hatte sich nach 1648 nahezu halbiert (1). Für ausreichende Nutzbaum-Nachpflanzungen fehlten offenbar Kraft und Wille, weshalb im Jahre 1686 der preußische Kurfürst Friedrich Wilhelm den Anbau von Obst- und Eichbäumen anordnete: die einen für die Menschen, die anderen für die Schweinemast. Keine Ehe ohne Baumpflanzung! „Es soll auch allen Pfarrern in allen Unsern Aemptern und andern Domainen hiermit erstlich und bei Vermeidung schwerer Verantwortung anbefohlen seyn, daß sie hinfort, und von dato an, kein paar Eheleute vertrauen sollen, es habe dann der Bräutigam […] einen beglaubten Schein […] produciret, daß er zum wenigsten sechs Obst-Bäume gepfropffet, und sechs junge Eichen an einem bequemen Orte gepflantzet habe.“ (2)

 

Diese Anordnung wurde mehrfach von den preußischen Königen wiederholt, und schließlich befahl Friedrich der Große seinen widerspenstigen Untertanen per Erlass vom 3. März 1754, entlang aller öffentlichen Wege Obstbaumalleen pflanzen. Es wurden regionale Baumschulen gegründet, die die Pflanzen zogen und den Anbau mit ihrem Knowhow unterstützten (3). Doch dann kam wieder ein Krieg den Äpfeln in die Quere: Napoleons Siege bei Jena und Auerstedt 1806 bescherten dem Volk erneut ein verheertes Land. Peter Joseph Lenné nutzte den Auftrag von Friedrich Wilhelm III. für ein Vorzeigeprojekt: 1827 gestaltete er die noch heute existierende Russische Kolonie Alexandrovka zu Ehren Zar Alexanders als pomologischen Mustergarten (3) und rief eine landeseigene Baumschule ins Leben. Lenné konnte aus 480 Apfelsorten wählen, von denen etliche noch heute im wiederaufgebauten Baumbestand dieses lebendigen Obstmuseums zu finden sind (4). Aber auch damals ging nicht alles glatt: „Die russischen Kolonisten, die die Obstgärten mit ihren Familien bewirtschaften mussten, konnten mit Sicherheit besser singen als Obstbäume schneiden.“ (5). Doch die Zeit schritt voran, die Bevölkerung wuchs, aus Obstanbau wurde Obstproduktion – die Industrialisierung machte Früchte zur Handelsware.

Nicolas Gaucher (6), Baumschulbesitzer und ganz erfolgreicher Geschäftsmann, präsentiert seinen Kunden 1894 voller Stolz sein pomologisches Prachtwerk: „[Eine Verteuerung des Buches, die Verf.] zu vermeiden war Pflicht, da mir sehr wohl bekannt ist, dass, so wertvoll ein Werk auch sein mag, es sich dennoch nur der gewünschten Verbreitung erfreut, wenn es entsprechend billig ist.“ (s. Vorwort). Kunstvoll gemalte Vorlagen für farbige Lithographien hatten ihren Preis! In Gauchers Zitaten finden wir die klassische Haltung des modernen Geschäftslebens im Zeitalter der Industrialisierung: Optimierung in jeder Hinsicht. Nur 25 Apfelsorten haben es in Gauchers Pomologie geschafft. Und von diesen begegne ich leider nur noch dem Boskoop bei meinen täglichen Einkäufen. Der beste der besten der Besten?

Johannisbeere "Rote Wunderschöne"

 

Alle Chromolithografien der hier abgebildeten Apfelsorten entstammen Gauchers Pomologie. Sie finden diese Äpfel heute in den Obstgärten der Potsdamer Kolonie Alexandrowka. Und da Pomologie die Kunde vom Obst ist, können Sie bei Gaucher auch in Bildern von Birnen, Pfirsichen, Kirschen und Beeren mit klangvollen Namen schwelgen. Schauen Sie doch mal nach: Was verbirgt sich zum Beispiel hinter der „Monstrueuse“?

Literatur

Gaucher, Nicolas (Hrsg.): Pomologie des praktischen Obstbaumzüchters : 102 Chromotafeln der besten Tafelobstsorten mit Beschreibung und Kulturanweisung. Stuttgart 1894
Signatur: 1342842693

Blom, Philipp: Die Welt aus den Angeln. München 2017. – Überaus vielseitige und lesenswerte Einordnung der Kleinen Eiszeit in die historischen Zeitläufte. https://stabikat.de/Record/873105567

GStA, II. HA. Kurm Tit. 199, Nr. I, Bd. I, p. 1-4; Mylius, C.O.: Corpus Constitionum Marchicarum, Teil I, 1736, 2. Bt., Sp. 95-97 mit falscher Jahreszahl 1685.

Heilmeyer, Marina (Hrsg. der Reihe): Äpfel fürs Volk. Aus der Reihe Potsdamer pomologische Geschichten, Potsdam 2009

Obstatlas der Russischen Kolonie Alexandrowka in Potsdam. Landeshauptstadt Potsdam 2012. Leider nur erhältlich in Potsdam selbst

Fußnoten

(1) vgl. Blom, Philipp: Die Welt aus den Angeln. München 2017. – Überaus vielseitige und lesenswerte Einordnung der Kleinen Eiszeit in die historischen Zeitläufte.

(3) Heilmeyer, Marina: Äpfel fürs Volk,  S. 40 (leider weder in der StaBi noch in den Stadtbibliotheken zu finden)

(4) Heute werden 289 Apfelsorten in Potsdam kultiviert, auch modernere Züchtungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, s. Obstatlas

(5) Obstatlas der Russischen Kolonie Alexandrowka in Potsdam, S. 23

(6) Nicolas Gaucher – Wikipedia

 

 

 

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