Nesthäkchen nach dem Weltkrieg
Die Kinder- und Jugendbuchabteilung wird 70!
Am 1. Juli 2021 feiert die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ihren 70. Geburtstag. Das ist so einfach gesagt. Aber wie sah die bibliothekarische Arbeitswelt in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus und wer war die erste Referentin dieser so bald nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Abteilung? Über beide ist wenig bekannt. Daher soll dieser Teil der 70-jährigen Geschichte im Folgenden im Vordergrund stehen.
Rahmenbedingungen der frühen 50er Jahre
Schwerste Schäden am Gebäude, einige Teile total zerstört. Die West-, Ost- und Nordflügel sind wiederhergestellt, die Wiederherstellung des Südflügels wird voraussichtlich 1950 beendet. Bisher nicht wiederhergestellt: Mittelteil einschl. Gr. LS [Großer Lesesaal] – Bücherverluste noch nicht feststellbar, da Bestände zum großen Teil noch verlagert.
So gab die in Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek (ÖWB) umbenannte ehemalige Preußische Staatsbibliothek im Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken Auskunft über die Situation, wie sie sich noch Anfang 1950 darbot. Auch wenn ein Jahr später, anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten für den Frieden, in der Fachzeitschrift Der Bibliothekar einladend ein „behaglicher Aufenthaltsraum, ausgestattet mit bequemen Sesseln und Rauchtischen, geschmückt mit Bildern und Blumen“ angepriesen wurde, der seit Anfang Juni 1951 den Benutzerinnen und Benutzern zur Verfügung stand – die Zeiten waren schwierig.
Personell war die Bibliothek stark geschwächt. Für das vorhandene Personal galt die Sechs-Tage-Woche: von Montag bis Freitag: 7:45-17:00 Uhr, und am Samstag: 8:00-13:30 Uhr. Um eine möglichst effiziente Dienstzeit zu gewährleisten, wurde die Kantine im Herbst 1952 für Bibliotheksbenutzer zur Mittagszeit gesperrt, um den Mitarbeitenden das lange Schlangestehen zu ersparen. (Offiziell erhielten Westberliner ab dem Frühjahr 1953 ohnehin nur noch einfache Getränke, jedoch keine Speisen mehr.) Als weiterer Zeitfresser wurde die hauseigene HO-Verkaufsstelle ausgemacht. Da beim Einkauf im Laden der staatlichen Handelsorganisation „von den Mitarbeitern viel Arbeitszeit verbraucht wird“, überlegte die Runde der Abteilungsleiter Anfang Juni 1953, ob diesem Missstand mittels Abgabe von Bestellungen beizukommen sei. (Heute hieße es: „Click and collect.“)
Einsparpotential wurde in vielerlei Hinsicht geprüft. Im Protokoll der Abteilungsleitersitzung (ALS) vom 20.03.1953 findet sich unter dem Punkt „Sparsamkeitsregime“ folgende Mahnung: „In Anknüpfung an den Beschluß des ZK d. SED vom 3.II.1953 weist Herr Prof. Dr. Kunze auf die Beachtung von Sparmaßnahmen in den einzelnen Abteilungen des Hauses hin.“ Im März drohten die Matrizen auszugehen. Ende Mai herrschte akute Papierknappheit, so dass notwendige Formulare zunächst nur in einer kleinen Auflage gedruckt werden konnten und auch die beidseitige Nutzung von Papier eruiert wurde. Schreibmaschinen waren lange Zeit Mangelware:
„Aus Anlaß von zwei Diebstählen von Schreibmaschinen […] soll […] noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß für jede Schreibmaschine eine persönliche Verantwortung besteht und daß der Verantwortungsträger bei Fahrlässigkeit persönlich haftbar ist.“
(ALS, 03.08.1951)
Und nicht zuletzt musste in dem kriegsbeschädigten Gebäude an Beheizung gespart werden – mit den erwartbaren Folgen:
„Von Mitarbeitern und Benutzern sind Klagen über die zu niedrige Temperatur im Allgemeinwissenschaftlichen Lesesaal, Hauptlesesaal, in der Bücherausgabe und Inkunabelabteilung vorgebracht worden. Es sollen die Fenster dieser Räume mit Filz abgedichtet werden. […] Die im Doktorandenzimmer fehlenden Fensterscheiben sollen sofort eingesetzt werden.“
(ALS, 05.12.1952)
Einen Monat später spitzt sich die Lage zu, so dass zusätzlich die „Abdichtung der Fenster durch Zeitungspapier, Einlegen von Stroh zwischen die Doppelfenster (unten), Beschaffung von Fenstervorhängen“ angewiesen wird. Zuweilen traten auch 1953 noch Ratten im Gebäude auf, glücklicherweise mit deutlich abnehmender Tendenz.
Bedeutung der Kinder- und Jugendliteratur in der NachkriegszeitWährend sich die Rahmenbedingungen sehr schwierig gestalteten, hatte sich die Situation für die Kinder- und Jugendliteratur (KJL), was ihre nunmehr in Ost und West gleichermaßen anerkannte Bedeutung als Instrument ideologisch opportuner Erziehung und damit ihr Ansehen und ihre bibliothekarische Sammelwürdigkeit anging, stark verbessert. Bereits 1947 wurde die ÖWB im Bestreben, ein Jugendschriftenarchiv zu gründen, vom Kulturellen Beirat für das Verlagswesen, der auch für die Erteilung von Druckgenehmigungen zuständig war, unterstützt – und kaufte von den zugewiesenen Mitteln historische KJL; die erste Kinderbuchausstellung Das neue deutsche Kinderbuch war 1948 ein großer Erfolg. Argumentative Unterstützung für die Gründung einer eigenen Abteilung fand sich in Form des Gesetzes über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik […] vom 8. Februar 1950. „Selbstverständlich“, so forderte die wenig später ins Ministerium für Volksbildung berufene Bibliothekarin und Kinderbuchautorin Ilse Korn, „sollen große öffentliche wissenschaftliche Bibliotheken die Kinder- und Jugendliteratur vollständig sammeln, damit die neue Jugendbuchproduktion vollständig für den wissenschaftlichen Gebrauch erhalten bleibt und für die Praxis der Jugendbuchschaffenden vorliegt.“ (Der Bibliothekar, 1950, H. 5, S. 239) Nur ein Jahr später richtet die ÖWB auf Betreiben ihres neuen, kinderbuchbegeisterten Hauptdirektors Prof. Dr. Horst Kunze eine Kinderbuchabteilung ein:
1. Personalangelegenheiten
[…]
e) Frl. Dr. Pahner wird ab 1.7.51 ihre Funktionen als Referentin für Ausstellungen und Jugendbücher übernehmen und der Benutzungsabteilung unterstellt werden.
2. Raum-Fragen:
[…]
b) Frl. Dr. Pahner wird zunächst zusammen mit den Bearbeitern des Zentralkataloges der Auslandsliteratur in das Zimmer 201 [das Direktionszimmer im 2. Stock] einziehen.
(ALS, 11.06.1951)
Da der Name der ersten Referentin der Kinder- und Jugendbuchabteilung bislang kaum je erwähnt wurde, sei sie an dieser Stelle kurz vorgestellt:
Anna-Dorothea Pahner,
… am 18. November 1921 in Leipzig geboren, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik in Leipzig und Straßburg. Am 15. März 1945 wurde sie mit einer Arbeit über „Ruprecht I. von der Pfalz und das Deutsche Reich unter König Wenzel“ von der Reichsuniversität Straßburg promoviert. Die Ausbildung für den höheren Bibliotheksdienst begann Dr. Annedore Pahner, wie sie oftmals genannt wurde, am 1. August 1945 als Volontärin an der Deutschen Bücherei in Leipzig. Am 28. Juni 1948 legte sie dort die bibliothekarische Fachprüfung ab. Die Bibliotheksassessorin wurde von der Deutschen Bücherei übernommen und wenig später, am 1. März 1949, zur Bibliotheksrätin ernannt. Zum 1. Juli 1950 erfolgte die Versetzung der Historikerin an die ÖWB in Berlin sowie ihre Beförderung zur Oberbibliothekarin. Ein bemerkenswert „normaler“ Lebenslauf in einer Zeit, in der Europa in Schutt und Asche lag, und eine steile Karriere, die vielleicht auch im damaligen Personalmangel, vor allem aber in der patenten, intelligenten, leistungsfähigen Persönlichkeit Dr. Anna-Dorothea Pahners begründet war.
Sie avancierte schnell zu einer der zuverlässigen Stützen der ÖWB. Neben der Entwicklung der von Hauptdirektor Kunze angestrebten „Modellsammlung“, der Sammlung historischer und moderner KJL sowie der Aufstellung eines Handapparats einschlägiger Sekundärliteratur, wurde ihr die gesamte organisatorische Verantwortung für sämtliche Ausstellungen der ÖWB übertragen. (Und sie scheute auch nicht davor zurück, für die Ausstellung russischer Neuerscheinungen anlässlich des Monats der Deutsch-Russischen Freundschaft, zwei Vitrinen in das drei Straßenblöcke entlang der Dorotheenstraße entfernte Postscheckamt karren zu lassen, um die Wartenden zu unterhalten und auf die Schätze der Bibliothek aufmerksam zu machen.) Darüber hinaus unterstützte sie das Referat „Geschichte und Kunstwissenschaft“ und übernahm „Sonderarbeiten“ für die Gesamtleitung, wozu auch die Vertretung der Bibliothek bei Fachtagungen zählte. (ALS, 03.08.1951)
Sie entwickelte die Jahresausstellungspläne, wurde in den Ausschuss abgeordnet, der die Bibliothek bei sämtlichen Aktivitäten zum Karl-Marx-Jahr 1953 unterstützen sollte, organisierte die Unterbringung des Ausstellungsmaterials und besprach mit externen Partnern deren Ausstellungspläne als Leihnehmer von Materialien der ÖWB. Nebenbei vertrat sie den Bereich KJL bei den sogenannten „Kaufsitzungen“, definierte das Kaufprofil, organisierte die Sammlung und zog in den ersten drei Monaten des Bestehens ihrer Abteilung gleich zweimal innerhalb des Gebäudes mit ihr um. Entlastung vom Ausstellungsreferat, wie sie es am 28. März 1952 beantragte, wurde ihr nicht gewährt.
Als die in Westberlin wohnenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ÖWB in Folge des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 nicht zur Arbeit in Ostberlin erscheinen konnten, übertrug man Dr. Anna-Dorothea Pahner zeitweilig die Leitung der Benutzungsabteilung.
1956 überarbeitete sie den Benutzungsführer der inzwischen in Deutsche Staatsbibliothek umbenannten Bibliothek. Und vermutlich ist auch die Vorbereitung der großen Ausstellung Internationales Kinderbuch, die im Dezember 1956 und Januar 1957 im Festsaal der Staatsbibliothek gezeigt wurde, zumindest teilweise ihr Verdienst. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits den Heiratsantrag ihres Kollegen Dieter Oertel sowie das Angebot ihres Doktorvaters Prof. Hermann Heimpel, des frischgebackenen Gründungsdirektors des Max-Planck-Instituts für Geschichte, angenommen und leitete dessen Institutsbibliothek in Göttingen.
Bestandsentwicklung
Der Bestand der Kinderbuchabteilung war in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens von etwa 4.500 Bänden (darunter 350 antiquarisch erworbene Titel) auf knapp 10.000 Bände angewachsen. Es entwickelte sich die hochwertige „Modellsammlung“, die Prof. Dr. Kunze bereits im Sommer 1951 als Ziel charakterisiert hatte. Am 3. November 1956 wurde die Abteilung, die inzwischen mit einem eigenen Lesesaal ausgestattet worden war, der Öffentlichkeit zur Benutzung übergeben.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten leiteten Dr. Brunhild Meyfarth, Hanna Meyer und Heinz Wegehaupt (1961-1993) diese ganz besondere Abteilung, die zu den seltenen Sammlungen von KJL für ein erwachsenes, wissenschaftliches Publikum zählt. Da die Deutsche Staatsbibliothek in der DDR das Pflichtexemplarrecht besaß, ist die Kinder- und Jugendbuchproduktion dieser Zeit vollständig vorhanden. Darüber hinaus wurde der Bestand durch eine möglichst repräsentative Auswahl ausländischer Bücher ergänzt, die in vielen Fällen im Tausch erworben werden konnten. Durch die engen Kontakte von Heinz Wegehaupt erreichten die Abteilung zudem Teile der westdeutschen KJL als Geschenk der Verlage. Zusätzlich zur zeitgenössischen Literatur ist dem Aufbau des historischen Teils der Sammlung von jeher eine hohe Bedeutung zugekommen. Die Sammlungsdichte, die über die Jahrzehnte erzielt werden konnte, offenbart sich in Heinz Wegehaupts einschlägiger Fachbibliographie „Alte deutsche Kinderbücher“, deren vier Bände zum überwiegenden Teil ein Bestandsverzeichnis der Kinder- und Jugendbuchabteilung darstellen. Das Werk – mit dem gemeinhin üblichen Zitiertitel „der Wegehaupt“ – zählt noch heute zu den zentralen Nachweisinstrumenten des Fachs.
Projekte im digitalen Zeitalter
Zwanzig Jahre nach der Übernahme der Abteilungsleitung durch Carola Pohlmann gelang einem Teil der im „Wegehaupt“ verzeichneten Bände 2013 der Sprung ins digitale Zeitalter. Finanziert durch Projektmittel des damaligen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien konnten gut 1.600 Kinder- und Jugendsachbücher, vor allem aus den Bereichen der Naturwissenschaften und der Technik, digitalisiert und weltweit frei verfügbar in die Digitalisierten Sammlungen der Staatsbibliothek eingestellt werden. Die enthaltenen Illustrationen wiederum dienten zwischen 2017 und 2020 als Datenbasis für ein von der Fritz Thyssen Stiftung finanziertes Projekt der Universitäten Hildesheim und Leipzig unter Einbeziehung der Kinder- und Jugendbuchabteilung zur automatischen Bildanalyse: „Entwicklung der Bildikonographie in Wissen vermittelnder Kinder- und Jugendliteratur und Schullehrbüchern des 19. Jahrhunderts: ein Distant Viewing Ansatz“. Für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt Bewegungsbücher digital (BeWeB-3D), in dessen Rahmen ein generisches Konzept zur Digitalisierung von Spielbilderbüchern mit 3D-Elementen entwickelt wurde, lieferte die Abteilung nicht nur das nötige vielfältige, international beachtete Material, sondern stand dem Projekt auch fachwissenschaftlich beratend zur Seite.
Die Digitalisierung stellt neben den traditionellen bibliothekarischen Aufgaben einen zunehmend wichtigen Arbeitsbereich in der Abteilung dar. 2020 wurde gemeinsam mit den Universitätsbibliotheken Bielefeld und Braunschweig sowie der Internationalen Jugendbibliothek in München und einem hochkarätig besetzten wissenschaftlichen Beirat erfolgreich ein umfängliches Digitalisierungsprojekt bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragt. Ab dem 1. Juni 2021, zum Weltkindertag, kurz vor dem 70. Geburtstag der Abteilung, kann nun im Rahmen von Colibri mit der Digitalisierung und vertieften Erschließung von 5.000 Titeln aus dem historischen Teil der Sammlung von Kinder- und Jugendbüchern begonnen werden. Zusammen mit den 10.000 zu digitalisierenden Titeln der anderen drei Partnerinstitutionen ergibt sich daraus nicht nur ein repräsentativer Überblick über die deutsche Kinder- und Jugendbuchproduktion vor allem des langen 19. Jahrhunderts (1801-1914), sondern auch eine solide Basis für die Erforschung dieses Literaturzweiges mit den Verfahren der Digital Humanities.
Aktueller Stand
Der Bestand der Abteilung ist mittlerweile auf knapp 220.000 Bände Primärliteratur angewachsen. Davon stammen über 24.000 aus dem Zeitraum vor 1900. Zudem umfasst die Modellsammlung gut 12.000 Bände Sekundärliteratur (darunter knapp 2.000 Zeitschriftenbände), über 25.000 Originalillustrationen von ca. 200 Künstlerinnen und Künstlern sowie mehr als 4.000 Blatt Bilderbogen. Es finden regelmäßig, von pandemiebedingten Ausnahmen einmal abgesehen, mindestens zwei Veranstaltungen pro Jahr zu vielfältigen Themen rund um das historische, aber auch das moderne Kinder- und Jugendbuch statt. Und u.a. ist auch das literaturfestival berlin inzwischen ein treuer Partner. Eine seiner Veranstaltungen findet alljährlich in der Staatsbibliothek statt.
Das „Nesthäkchen der Nachkriegszeit“ hat sich in den 70 Jahren seines Bestehens gewaltig gemausert. Die Abteilung darf heute den Lesesaal ihr eigen nennen, der während der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sie selbst gerade erst aus der Taufe gehoben wurde, der ÖWB als Hauptlesesaal diente.
Historische Abrundung: der weitere Werdegang der ersten Referentin
Was wurde späterhin aus Frau Dr. Oertel? Das Ehepaar Oertel zog 1961 nach Bonn. Dr. Dieter Oertel arbeitete im Bibliotheksreferat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dessen Leitung er 1966 übernahm. Frau Dr. Oertel gab die Leitung der Max-Planck-Bibliothek auf, kümmerte sich aber weiterhin um die Internationale Bibliographie der Geschichtswissenschaften und leistete Beiträge zur Monumenta Germaniae Historica – eine Historikerin mit Leib und Seele.
[Der Text erschien ursprünglich in Heft 2, 2021, des Bibliotheksmagazins, S. 64-70.]
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