Ich-AG, typografisch – H. Bertholds ‚Akzidenz-Grotesk‘ für Ihren Computer

Zahlreiche digital entworfene Schriften sind von historischen Vorlagen inspiriert, weshalb unsere kürzlich abgeschlossene Projektkooperation zur Open Access-Zugänglichmachung des typografischen Kulturerbes Berlins mit dem Deutschen Technikmuseum, der Erik Spiekermann Foundation sowie der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Kreativwirtschaft hat. Für Berlin trifft dieser Befund sogar in ganz besonderem Maße zu – und das keineswegs nur mit Blick auf die so vielfältige Schriftdesign-Szene der Hauptstadt, in deren Netzwerk der öffentliche Typostammtisch einen zentralen Knotenpunkt markiert. Denn Berlin ist zudem auch Entstehungsort einer Schrift, die eine eindrucksvolle, inzwischen mehr als hundertjährige und nach wie vor andauernde gestalterische wie ökonomische Erfolgsgeschichte schreiben sollte. Die Rede ist von der 1898 von der Kreuzberger H. Berthold AG veröffentlichten Akzidenz-Grotesk – kurz: AG –, die als ‚Mutter aller Groteskschriften‘ gilt und zahlreichen Hausschriften internationaler Unternehmen wie Braun, L’Oréal oder Volvo zugrunde liegt.

Um dieses Nutzungsszenario einer kreativen Transformation historischer Druckschriften in Computer-Fonts durch möglichst qualitätsvolle Vorlagen zu befördern, kamen zur Digitalisierung der projektrelevanten Schriftproben aus unseren eigenen sowie den Sammlungen der Kunstbibliothek ausschließlich Hochleistungsscanner zum Einsatz. Das digitale Nachzeichnen der in den Schriftproben abgedruckten Buchstaben erleichtern wir aber nicht alleine durch die präzise Bildgeometrie unserer Aufnahmen, sondern auch durch deren optionale Verfügbarkeit als Graustufenscans in einer optimierten Auflösung von 600 ppi. Unter Beachtung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft formulierten Praxisregeln digitalisieren wir nämlich unsere Sammlungen standardmäßig in Farbe bzw. mit einer Auflösung von 300 ppi – Vorgaben, an denen sich auch das Deutsche Technikmuseum für den Scan seiner Projekttranche an Schriftproben sowie der von Erik Spiekermann und seinem Team besorgten Andrucke ausgewählter Berliner Blei-, Holz- und Kunststofftypen orientierte. Diese in p98a, der am digitalen Ende der Gutenberggalaxis lokalisierten Druckwerkstatt des weltbekannten Typografen und Gestalters, in mehreren Versionen, Schnitten und Graden auf Papier gedruckten Schriftsätze von jeweils 90 bis 120 Zeichen (einschließlich von Ziffern und Sonderzeichen) stammen überwiegend aus seiner Privatsammlung, aber auch das Deutsche Technikmuseum konnte noch einige Lettern aus seinem Historischen Archiv besteuern. Über dessen Präsentationsportal werden die digitalisierten Druckbögen daher auch zugänglich gemacht – und obendrein auf den Seiten der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB), die in Kürze als virtuelle Klammer alle Erträge unseres Gemeinschaftsvorhabens bündeln wird.

Da es dem gesamten Antragskonsortium – wie gesagt – ein wichtiges Anliegen ist, nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die kreative Nutzung des in den vergangenen Monaten erzielten Projektoutputs anzuregen, möchten wir Sie dazu ermuntern, aus den digitalisierten Schriftproben und Andrucken eigene Computerfonts herzustellen. Wie das geht, zeigt etwa dieses sechsteilige Video-Tutorial der DDB, für das Sie erfreulicherweise keinerlei Vorkenntnisse benötigen.

Aber selbstverständlich würden wir Sie niemals in die typografische Hobbythek schicken, ohne Ihnen auch Jean Pütz‘ legendären Satz zuzurufen: Wir haben da mal was vorbereitet! Denn Erik Spiekermanns Team hat sich für Sie der AG angenommen und dieses analoge Flaggschiff des Berliner Schriftkulturerbes in einen für alle Betriebssysteme und Textverarbeitungsprogramme geeigneten digitalen Computer Font übersetzt. Dessen materiales Fundament bildete allerdings nicht die damals noch unter dem Namen Accidenz-Grotesk vermarktete Urform der AG, sondern vielmehr Günter Gerhard Langes Neufassung aus dem Jahr 1957 – eine als Serie 57 bekannte Variante, mit der diese Schriftfamilie u.a. erstmals einen kursiven Schnitt erhalten sollte.

Besagte OTF- bzw. TTF-Dateien der AG Serie 57 im Normalschnitt finden Sie zur beliebigen (Weiter)Verwendung unter der Lizenz CC BY-NC-SA auf der Software-Entwicklungsplattform GitHub – und das nicht ohne Grund. Denn wir wünschen uns mit allem An- und Nachdruck, dass Sie unsere Maßnahme als Impuls zur kreativen Neuinterpretation des typografischen Kulturerbes Berlins aufnehmen – das geben wir Ihnen auch gerne schriftlich.

 

 

10 Kommentare
  1. M. S. sagte:

    Unter welcher Lizenz steht die digitalisierte Version des Fonts? SIL OFL? Vielleicht könnte das auf der Github-Seite auch direkt vermerkt werden.

    Vielen Dank aber auf jeden Fall für den tollen Fonts!

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  2. Robert Grimm sagte:

    Die Font Dateien auf GitHub enthalten diese widersprüchliche Notiz: „Copyright © 2022 Erik Spiekermann & neue. All rights reserved.“

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    • Christian Mathieu
      Christian Mathieu sagte:

      Haben Sie nochmals vielen Dank für den Hinweis. Herrn Spiekermann haben Sie ja bereits per Twitter auf den Sachverhalt angesprochen – sicher wird er rasch antworten. Die verbindliche Lizenzinformation zur Nutzung der AG-Fonts dokumentieren wir dann auch hier im SBB-Blog.

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  3. Jan sagte:

    Thank you for publishing this typeface. What license is this under? Are we free to modify and distribute it etc?

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