Gestern und heute – ein literarischer Almanach aus der frühen Sowjetzeit
Mit bewegter Geschichte: jüngst erworben für die Osteuropa-Sammlungen der Staatsbibliothek
Včera i segodnja : al’manach byvšich pravonarušitelej i besprizornych. – Moskva, Leningrad : Gosudarstvennoe Izdat. Chudožestvennoj Literatury, 1931-
Signatur: Zsn 130859
Man sieht dem kleinen Band an, dass er nicht nur eine bewegte Geschichte beschreibt, sondern eine solche auch hinter sich hat. Die Vorderseite des Schutzumschlages ist sorgfältig auf einen neueren festen Einband aufgeklebt. So konnten die beiden kleinen Illustrationen im konstruktivistischen Stil erhalten bleiben. Sie sind von Alexander Tschob (Aleksandr Ivanovič Čob) gestaltet worden.
Genau wie die Autoren der Texte gehörte er zu der großen Gruppe von bis zu sieben Millionen verwaister, obdachloser und kleinkrimineller Kinder und Jugendlicher, die in den Jahren nach Weltkrieg, Revolutionen und Bürgerkrieg durch das Land streiften, aufgegriffen und in Kolonien für minderjährige Straftäter und Herumstreicher eingewiesen wurden. Nach Ideen des Pädagogen, Schriftstellers und Geheimdienstoffiziers Anton S. Makarenko wurden dort Maßnahmen zur Umerziehung, Bildung und Resozialisierung der Jugendlichen umgesetzt. Einige dieser Kolonien entwickelten sich später zu Kommunen, in denen die Insassen durch Übertragung von individueller Verantwortung und größeren Freiheiten an ein selbstständiges ziviles Leben herangeführt werden sollten.
Literatur und Kunst wurden in die pädagogische Arbeit integriert. Vor allem in der von Makarenko gegründeten Gorki-Kolonie, für die der Schriftsteller Maxim Gorki (Maksim Gorkij oder Aleksej Maksimovič Gorkij) eine Art Patenschaft übernahm und die er mehrfach u.a. auch gemeinsam mit dem französischen Schriftsteller und Politiker Henry Barbusse besuchte, entwickelte sich ein reiches kulturelles Leben. Auf Anregung Gorkis widmete sich der Kolonieinsasse Pawel Schelesnow (Pavel Il’ič Železnov) der Vorbereitung eines Bandes mit Texten anderer Insassen solcher Kolonien.
Er sammelte ihre Berichte, Erzählungen und Gedichte. Ergänzt durch Fotografien erschien 1931 dieser erste Almanach „Gestern und heute: Almanach gewesener Gesetzesbrecher und Straßenkinder“ mit einem Vorwort von Maxim Gorki. Dort hebt Gorki hervor: „Neben seiner agitatorischen, pädagogischen Bedeutung hat dieses von Straßenkindern geschriebene Buch einen ganz eigenen Wert: es berichtet davon, dass im ‚Nachtasyl‘ begabte Menschen leben, und erinnert daran, dass sie in alter Zeit niemals aus diesem Nachtasyl herausgefunden hätten“. Der Originaltitel des Stückes Nachtasyl lautet „Na dne“ – wörtlich übersetzt „am Boden, auf dem Grund, ganz unten“. Gorki verwendet hier diese Bezeichnung in direktem Bezug auf sein Werk für die sozial am schlechtesten gestellten und geächteten Bevölkerungsgruppen.
Neben Tschop und Schelesnow treten in dem Band weitere Autoren hervor, deren Lebensweg in der Kindheit und frühen Jugend durch soziale Perspektivlosigkeit, Kleinkriminalität und Landstreicherei gekennzeichnet war und die später dennoch Schriftsteller wurden. In verschiedenen Kolonien konnten sie alle eine grundlegende Schulbildung erhalten, Vorstellungen von sozialem Zusammenleben und sozialer Verantwortung entwickeln, zum Teil sogar studieren und letztlich eben eine Schriftstellerlaufbahn einschlagen. Dies trifft beispielsweise auf Iwan Dremow (Ivan Afanas’evič Dremov) zu, der in dem Band schon als Student der „Litrabfak“ – der Arbeiter- und Bauernfakultät für Literatur am Gorki-Literaturinstitut – einige Gedichte beitrug und auch später mehrere Gedichtbände veröffentlichte. Auch der spätere als Schriftsteller und Übersetzer Wiktor Awdejew (Viktor Fedorovič Avdeev) publizierte hier erstmals die Erzählungen „Karapet“ (Held der armenischen Mythologie) und „Schiga‘s Triumph“ (Toržestvo Žigi). Für ihn blieb das Schicksal der Straßenkinder das wichtigste Thema seines späteren Schaffens.
1976 gab er zusammen mit Dremow und Alexander Burtynski (Aleksandr Semenovič Burtynskij) unter dem Titel „Gestern und heute“ einen Sammelband zu diesem Thema heraus.
Die zahlreichen Vorbesitzerstempel im Exemplar der SBB PK zeugen ebenfalls von einer bewegten Geschichte.
Der Band muss durch hunderte Hände gegangen sein. Alle früheren Eigentumsstempel sind von Einrichtungen des sowjetischen Schriftstellerverbandes: „Bibliothek des Schriftstellerklubs der Föderation sowjetischer Schriftstellerverbände“ (FOSP – Federacija organizacij sovetskich pisatelej,
„Bibliothek des Hauses sowjetischer Schriftsteller“, „Bibliothek des Zentralen Hauses der Literaten“. Ein vierter Stempel zeugt von einer Neuinventarisierung.
Damit stellt sich die Frage, ob die Stempel nicht alle einer einzigen Einrichtung zuzuordnen sind, ob bei Namensänderungen der Bibliothek nicht einfach ein neuer Stempel aufgebracht wurde und somit eigentlich nur ein Vorbesitzer zu verzeichnen ist? Um diese Frage eindeutig zu beantworten, müsste jedoch länger recherchiert werden. Fest steht jedoch: Alle alten Stempel sind mit russischen „Pogascheno“ -Stempeln ordnungsgemäß ungültig gemacht worden. Nunmehr hat das Büchlein mit seiner interessanten Geschichte heute in den Sammlungen der Staatsbibliothek ein bleibendes Zuhause gefunden.
Übrigens erschien 1933 ein zweiter Almanach. Doch dieser steht dem deutschen Leser leider noch nicht zur Verfügung. Die SBB-PK wird sich aber um seine Erwerbung bemühen.
Werke von Wiktor Awdejew im Stabikat
Werke von Iwan Dremow im Stabikat
Werke von Pawel Schelesnow im Stabikat
Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!