Von Galvanotypie, Messinglinien & Ornamenten zum Blei- & Fotosatz – die H. Berthold AG, größte Schriftgießerei der Welt
Ein Gastbeitrag von Kirsten Solveig Schneider, Kommunikationsdesignerin, Mitarbeiterin und Nachlassverwalterin von Günter Gerhard Lange (künstlerischer Leiter der H. Berthold AG), im Rahmen des digiS-Digitalisierungsprojekts Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access mit Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin.
Im Hinterhof des Mehringdamm 43 in Berlin finden sich noch letzte Spuren des Hauptquartiers der einst größten Schriftgießerei der Welt, der H. Berthold AG. Hier bezog 1869 der Firmengründer Hermann Berthold mit seiner florierenden Firma das Gebäude, das damals noch die Belle-Alliance-Straße 88 war. Von dem kleinen Institut für Galvanotypie führt der Weg zur weit bekannten Messinglinien-Fabrik. Das Fertigungsprogramm, welches anfänglich nur aus einem enormen Linienreichtum besteht, wird nach dem Ersten Weltkrieg um Ornamente erweitert — von diesem Geschäftszweig schließlich zur Schriftgießerei, die Bleischriften für den Buchdruck herstellt und den älteren Produktionszweig überflügelt. Innerhalb der Geschichte Bertholds wandelt sich das konservative, auf handwerkliche Qualität ausgerichtete Unternehmen zunehmend in einen modernen Industriekonzern. Der Bleisatz wird durch den Fotosatz abgelöst und Berthold baut eine der ersten Fotosetzmaschinen in Deutschland. Berthold, der Fotosatz und ebenso der Schriftguss sind heute Geschichte. Geblieben ist das Firmenarchiv mit den enthaltenen Nachlässen von Günter Gerhard Lange und seinem Nachfolger Bernd Möllenstädt im Technikmuseum Berlin, dessen Potential für Forschungsvorhaben kaum hoch genug zu schätzen ist. Mit dem digiS-Projekt Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access ist nun ein erster Schritt getan.
Die Anfänge von Berthold
Hermann Berthold (1831—1904) gründet am 1. Juli 1858 in der Wilhelmstraße 1 in Berlin das Institut für Galvanotypie zur Herstellung von galvanoplastischen Arbeiten für den Buchdruck. Bei der Galvanotypie handelt es sich um ein Verfahren zur Herstellung von Stempeln oder Druckplatten, die eine fast unbegrenzte Zahl gleichbleibend guter Drucke ermöglicht. 1864 nimmt Berthold nach einer kurzen Verbindung mit Gustav Zechendorf die Herstellung von Messinglinien als Hauptbetrieb auf. Als Erster hat er die Idee, Linien aus gehärtetem Messing statt wie bisher aus Blei oder Zink herzustellen. Dies bewirkt eine präzisere Liniendicke bei gleichzeitig höherer Langlebigkeit. Die Erfindung neuer wertvoller Linienmuster und die Exaktheit der Linien sichern seiner Firma bald den weitreichenden guten Ruf: Präzise wie Berthold Messing.
Hermann Berthold, Unternehmer und Erfinder
Als Feinmechaniker beweist der Firmengründer stetigen Erfindergeist: neben den Messinglinien ist ihm auch eine Methode zur Herstellung von Kreislinien ohne Löten zu verdanken. 1864 erleichtert er die Arbeit mit dem Winkelhaken, einem Arbeitsmittel des Setzers zur Aufreihung einzelner Lettern zu Zeilen durch den Keilhebelverschluss. Da es damals kein einheitliches Schriftmaß gibt, beauftragen 1878 die deutschen Schriftgießereien Hermann Berthold, Ordnung in das Durcheinander von typografischen Maßsystemen zu bringen. Bereits 1879 präsentiert er das Berthold-Typometer, das seither das Standard-Maßsystem im deutschen Schriftgießereigewerbe ist. 1888 setzt sich Hermann Berthold nach dreißig Jahren erfolgreicher Arbeit zur Ruhe. Sein Nachfolger A. Selberg führt das Geschäft in den folgenden drei Jahren weiter. 1891 tritt er die Leitung an Balthasar Kohler ab. Für Berthold wird die Konkurrenz durch neu gegründete Messinglinienfabriken zunehmend spürbar. Der weitblickende Kohler fasst daher den Entschluss, einen neuen Produktionszweig durch Angliederung einer Schriftgießerei aufzunehmen.
1896 firmiert sich die Firma von der drei Jahre zuvor umgewandelten Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft. Die Zusammenarbeit von Balthasar Kohler und Gustav Reinhold erweist sich als sehr erfolgreich: seit dem Ausscheiden von Hermann Berthold hat sich die Firma um das Dreifache vergrößert. Durch neue Gebäudeteile und den Zukauf des Nachbargrundstücks wird man dem dringend benötigten Platzbedarf gerecht. 1898 erscheint bei Berthold die Schrift Accidenz-Grotesk, die bei Berthold eine ganz besondere Stellung einnehmen wird. Dazu später mehr.
Direktor mit Weitsicht: Dr. Oscar Jolles
Als Nachfolger von Balthasar Kohler und Gustav Reinhold beweist Dr. Oscar Jolles (1860—1929) ab 1899 kaufmännischen Weitblick: er baut Berthold nicht nur zur Weltfirma, sondern zum Konzern aus. Zwar ist Jolles auf dem Gebiet der Schrift ein Laie, doch setzt er sich äußerst engagiert für die künstlerische Schrift und bibliophile Sonderdrucke ein. Das Unternehmen floriert durch laufende Zukäufe, eigene Gründungen und Übernahmen von Schriftgießereien: so entstehen Filialen in Petersburg (1900), Moskau (1901), Wien (1905) und in Prag (1908). Durch die Übernahmen von Schriftgießereien kommen neue Schriften in das Berthold-Repertoire.
Kriegseinbußen bei Berthold 1914/18
1914 erscheint die Chronik der deutschen Schriftgießereien von Friedrich Bauer. Dort heißt es, die Firma zähle 700 Betriebsangehörige sowie 188 Komplettgießmaschinen, 28 Handgießmaschinen und 307 sonstige Maschinen, davon ein großer Teil von eigener Erfindung und Bauart. Der weitere Aufstieg der Berthold AG findet — bedingt durch den Ersten Weltkrieg — eine Unterbrechung. Steigende Rohstoffpreise und Probleme bei der Energieversorgung schränken die Produktion ein, der Kontakt zu Filialen im Ausland reißt teilweise ab. Immerhin bleiben aus Österreich und einer Anzahl neutraler Staaten ein Eingang von Bestellungen im mäßigen Umfang bestehen. Trotz aller Widrigkeiten gelingt es bis 1916, achtzehn neue Schriften zu erschaffen. Die Firma wächst durch Zukäufe stetig und ist 1918 die weltweit größte Schriftgießerei.
Berthold zwischen den Kriegen
Das Jahr 1919 steht bereits unter dem Zeichen der Inflation. Lediglich die Filialen in Stuttgart, Leipzig und Wien können gewinnbringend arbeiten. Wichtige Rohstoffe wie etwa Blei sind nun zwar wieder erhältlich, aber überteuert. Der Mangel an Kohle, für die Licht- und Kraftversorgung essenziell, bereitet der Industrie große Probleme. In der Chronik Das Haus Berthold wird berichtet, dass die Industrie durch den ihr aufgezwungenen Achtstunden-Arbeitstag und die verordnete Ferienruhe der Arbeiterschaft außerordentlich schwer belastet werde. Unter diesen Umständen wird der Export erheblich erschwert, da die Einhaltung von Preisen und Lieferzeiten nur schwer möglich ist. Für Umsatz sorgen die Druckereien, die nach der langen Zeit einen enormen Bedarf haben. Wie viele andere gießt die Berthold AG in dieser Phase fast nur Schriften, entwirft oder schneidet aber kaum neue.
Werbeschriften und Schriftenwerbung
In den 1920er und 1930er-Jahren entstehen für die geradezu explodierende Werbebranche schließlich viele neue Schriften, von denen einige zu Verkaufsschlagern bei Berthold werden. 1927 knüpft die Fanfare von Louis Oppenheim an den Erfolg seiner Lo-Schrift von 1914 an. Die Block, erstmals 1908 erschienen, wird um weitere Schnitte erweitert. Berthold engagiert in dieser Zeitspanne Gestalter und Künstler, die nicht nur Schriften entwerfen, sondern diese auch zum Teil selbst bewerben. Einige von ihnen wie Herbert Bayer und Georg Trump sind im Umfeld des Bauhauses und der Neuen Typografie angesiedelt. Aus den Werbematerialien der Zeit wird ersichtlich, wie nachhaltig die Errungenschaften dieser beiden Stile wirken und zum entstehenden Berufsbild des Grafikdesigners beitragen.
Zerstörung und Wiederaufbau
Der Zweite Weltkrieg bremst erneut jegliche weitere Wirtschaftsentwicklung. Allen aus Materialbewirtschaftung, Verkehrsbeschränkungen und Personalmangel erwachsenden Herausforderungen zum Trotz kann Berthold aber noch bis 1944 verhältnismäßig gleichbleibende Umsätze erwirtschaften. Zum Kriegsende wird der Berliner Hauptbetrieb bei einem Bombenangriff getroffen. Im Zuge der Kämpfe um Berlin verbrennt Ende April 1945 das gesamte Schriftenlager. Wertvolle Matrizenbestände, die als Gussvorlage für die Herstellung der Schriften nötig sind, werden dabei vernichtet. Der Betrieb kommt eine Zeit lang völlig zum Erliegen. Doch noch im gleichen Jahr wird mit den Aufräumarbeiten begonnen, und schon im Herbst kann die Messinglinienproduktion im kleinen Umfang wieder aufgenommen werden. Bis zum Frühjahr 1951 sind alle Kriegsschäden im Berliner Werk beseitigt und im Sommer die Vorkriegskapazität der Produktion erreicht.
Aufschwung und Umschwung: Günter Gerhard Lange beginnt bei der H. Berthold AG
Nach der vorherigen Zerstörung des Berliner Hauptbetriebs und den dabei verlorengegangenen Matrizen ist der Bedarf an neuen und schnell herzustellenden Werbeschriften enorm. Begünstigt wird die Entwicklung durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, der in Deutschland nach der Währungsreform einsetzt. In dieser Zeit kommt eine Person zu Berthold, die die Firma nachhaltig prägen wird. 1950 beginnt Günter Gerhard Lange (1921—2008), kurz GGL, zunächst als freier Mitarbeiter bei Berthold. Eine Zusammenarbeit beginnt, die vierzig Jahre dauern soll. Zunächst entwirft GGL kalligrafische Schreibschriften wie Derby, Boulevard, Regina, Champion und als erste Mengensatzschrift die Arena. Zudem gestaltet er Schriftproben und Musterblätter neuer Schriften und überwacht sorgfältig deren Satz und Druck in der Hausdruckerei. So prägt er die Außendarstellung von Berthold maßgeblich. Günter Gerhard Langes Verdienst am Wiederaufbau und der erfolgreichen Neupositionierung auf dem internationalen Markt sind — gerade in den Nachkriegsjahren — hoch anzusiedeln.
Die lange Entwicklung des diatyp(e)-Geräts
Die Entwicklung des Fotosatzes steht bei Berthold bereits in den Startlöchern. Aber noch werden Schriftgusserzeugnisse, Messinglinien und in kleinem Umfang großdimensionierte Holzschriften, sogenannte Plakadur-Schriften für den Satz von Plakaten hergestellt. Diese drei Basismaterialien, Guss für Lettern, Messing für Liniensatz und Holz für Plakatschriften, muss man in ihrer anspruchsvollen Handhabung vor dem geistigen Auge sehen, um jene Revolution ermessen zu können, die mit der Aufnahme des Fotosatzes am 1.7.1952 erfolgt. Der Weitsicht des ehemaligen Direktors Carl Graumann (1919—1956) ist es zu verdanken, dass Berthold schon früh den Start im Fotosatz mit einem verhältnismäßig kleinen Gerät fokussiert. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis die diatype entsteht. Nach längerer Entwicklungszeit mit Kosten in Millionenhöhe will man die ganze Sache zunächst stoppen. Günter Gerhard Lange, der die Zeichen der Zeit früh erkannt hatte, kann jedoch die Weiterentwicklung durchsetzen. 1958 schließlich wird der Öffentlichkeit der Prototyp des ersten Berthold-Fotosetzgerätes auf der weltgrößten Messe der Druck- und Druckmedienindustrie, Drupa, vorgestellt.
Widerstände, Skepsis und Misstrauen in der Fachwelt
Die Skepsis der Fachwelt gegenüber der Fotosatztechnik ist anfänglich jedoch groß. Johannes Gutenberg (1400—1468), der Erfinder des Buchdrucks, sah seine Aufgabe darin, das kostbare handgeschriebene Buch durch Auflagendruck einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. Mit seiner Erfindung der beweglichen Lettern wurde der Schreiber durch den Setzer und Drucker abgelöst. Nach diesem Bausteinprinzip ist mehr als 500 Jahre ausschließlich gearbeitet worden. Es verwundert daher nicht, dass man der Fotosatztechnik zunächst keinen rechten Glauben schenken mag. Und so bleibt der erhoffte Impuls für eine Serienproduktion vorerst aus. 1960 wird Günter Gerhard Lange künstlerischer Leiter der H. Berthold AG. Somit erhält er auch mehr Einfluss auf die künftige Entwicklung und die Ausrichtung der Firma zu einem der bedeutendsten Hersteller von Fotosetzsystemen und den dafür notwendigen Schriften. Während 1960 die Verkäufe allen voran der Schrift Akzidenz-Grotesk den Umsatz in die Höhe schnellen lassen, verläuft der Verkauf der Fotosetzgeräte jedoch noch schleppend. Im selben Jahr wird die Weiterentwicklung, die bislang nur nebenher betrieben wurde, konsequent aktiviert, bis zur Marktreife geführt und das erste Gerät verkauft. Schließlich wächst die Nachfrage, auch aus dem Ausland, stetig.
Verbreitung der diatype und weitere Fotosetzgeräte
1964 scheint Berthold einer glänzenden Zukunft entgegenzusehen: während der Schriftenverkauf zurückgeht, bringen die Fotosetzgeräte dafür einen kräftigen Zuwachs. Zur diatype, deren Stärke im Akzidenz-, Tabellen- und Formularsatz liegt, kommt der Starsettograph, für den Satz von großen Überschriften. Nach sorgfältiger Marktanalyse folgt schließlich die Idee zur diatronic für den Mengensatz. 1965 beginnt die intensive Konzeption und Arbeit an drei diatronic-Maschinen. Sowohl für die Maschinenfertigung als auch für die Schaffung der Schriftträger wird eine völlig neue Produktion aufgezogen. Sie bedingt ein umfassendes Schriftangebot, das den Wünschen der Maschinenhersteller entgegenkommt. Neben Schriften aus dem eigenen Gussprogramm werden zahlreiche Lizenzen von anderen Gießereien übernommen. Mit dem Wechsel von Blei- auf Fotosatz beginnt schließlich der konsequente Aufbau der Schriftenbibliothek.
Berthold-Schriften als wichtiges Qualitätskriterium
Diese Schriften, die es erst einmal zu schaffen gilt, sind sowohl im Fotosatz als auch später im digitalen Satz ein wichtiges Qualitätskriterium. Natürlich spielen Funktionalität und Bedienungskomfort des Systems eine wichtige Rolle, das sichtbare Endprodukt aber ist die Schrift. Ist der Kunde mit dem Ergebnis nicht zufrieden, ist die Arbeit des Setzers auch bei größter Mühe wertlos. Günter Gerhard Lange hat diese Zusammenhänge, auch deren unternehmerische Bedeutung von Anbeginn klar erkannt und für die von ihm vorgegebenen Qualitätsstandards gekämpft. Nur so konnte Berthold als Synonym für Schrift- und Satzqualität bekannt werden. Nach systematischer Marktanalyse ergänzt er die anfänglich überwiegend aus Akzidenz-Schriften bestehende Schriftenbibliothek um gute Werkschriften und zeitgenössische Exklusivschriften. Zusätzlich entstehen im Berthold-Atelier in Taufkirchen weitere klassische Schriften aus dem großen Reservoir der Schriftgeschichte wie etwa die Bodoni Old Face. Unterstützt wird er von dem Schriftatelierleiter Bernd Möllenstädt (1943—2013), der nach Langes Pensionierung im Jahr 1990 seine Nachfolge als künstlerischer Leiter antritt.
Stetige Überzeugungsarbeit und Schulungen im Fotosatz
Ein weiterer Grund für die anfangs schleppenden Verkäufe der Fotosetzgeräte liegt am immer noch fehlenden Berufsbild des Fotosetzers mit entsprechend staatlichem Abschluss. Die Bereitschaft zum Kauf scheitert zudem auch daran, dass noch keine geeigneten Fachkräfte auf dem Markt verfügbar sind. Aus diesem Grund eröffnet Berthold 1966 das erste Fotosatz-Zentrum in Essen, weitere folgen in den Ballungsräumen der grafischen Industrie wie Frankfurt/Main, Stuttgart, München, Berlin und Hamburg. Sie haben einen nicht geringen Anteil an der Popularisierung und dem Durchbruch des Fotosatzes bei Berthold. Zusätzlich hält Günter Gerhard Lange intern wie extern ausgewählte Lichtbilder-Vorträge auf Messen, Fachveranstaltungen und Konferenzen und schreibt zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften.
Aufstieg und schneller Fall des Fotosatzes
In den nachfolgenden Jahren bis Ende der 1980er-Jahre produzieren verschiedene Hersteller, unter ihnen auch die Linotype GmbH unterschiedliche Arten von Fotosetzmaschinen, die den Bleisatz ab den 1970er-Jahren sukzessive ablösen und den Schriftsatz, die Druckvorstufe sowie das gesamte polygrafische Gewerbe revolutionieren und völlig neu strukturieren. Immer mehr Schriftgießereien schließen. Doch schon ab 1982 kommt mit dem Desktop-Publishing (DTP) die nächste Revolution. Ende der 1980er-Jahre löst der Personal Computer wiederum den Fotosatz innerhalb kürzester Zeit ab.
Finanzielle Schwierigkeiten und Konkurs
Die Produktion von Messinglinien und Schriftmaterial für den Bleisatz werden bei Berthold Ende 1978 aufgegeben. In der Zwischenzeit sind viele weitere Fotosetzgeräte für die unterschiedlichsten Anforderungen und Aufgaben erschienen. Ab den 1980er-Jahren gerät Berthold zunehmend in finanzielle Schieflage: die Übernahme teils kränkelnder Firmen kostet die Firma fast das Doppelte des damaligen Eigenkapitals. Zu spät bringt Berthold 1980 für die Ganzseitenmontage per Computer das System Magic auf den Markt — aufgrund existierender Systeme wird es allerdings ein 60-Millionen DM Flop. Die dadurch entstandene Entwicklungslücke konnte 1986 auch mit dem System M nicht aufgeholt werden. Anfang 1990 hat Berthold alle Schriften schon digital verfügbar gemacht und versucht, mit einer eigenen Entwicklung an dem von Adobe entwickelten PostScript Format als Basistechnologie zum Ansteuern von verschiedenen Ausgabegeräten vorbeizuziehen. Am Ende führen die unglücklichen Zukäufe und die PostScript-Verweigerung zum Niedergang, die Verhandlungen mit verschiedenen Investoren scheitern. 1992 muss die H. Berthold AG Konkurs anmelden. Die Berthold Systeme GmbH wird als Nachfolgegesellschaft gegründet, geht aber ebenfalls bankrott. 1993, nach 135 Jahren Bestehen ist die Firma H. Berthold AG Geschichte. Die Technik des Fotosatzes und nachfolgender Systeme hat nicht überlebt. Geblieben ist ein Schriftwerk, das zum Synonym für Qualität geworden ist und bis heute besteht.
Das historische Schrifterbe von Berthold im digiS-Projekt
Zahlreiche Schriften sind von historischen Vorlagen inspiriert, allen voran die bei Berthold 1898 erschienene Accidenz-Grotesk, die später in Akzidenz-Grotesk (AG) umbenannt wird. Sie wird als „Mutter aller Groteskschriften“ bezeichnet und prägt ab den späten 1950er-Jahren als Schrift der Schweizer Typografie, des sogenannten International Typographic Style einen ganzen Stil. Im Rahmen des digiS-Projekts digitalisiert nun die Erik Spiekermann Foundation eine Auswahl von Andrucken von Holz-, Kunststoff- und vor allem Bleilettern aus Berliner Gießereien. Fünf der erfolgreichsten Schriftfamilien der H. Berthold AG (Akzidenz-Grotesk, Berliner Grotesk, Block, Lo-Schrift und Fanfare) werden dann verfügbar sein. Die Digitalisierung umfasst die Nutzbarmachung in Form von frei zugänglichen Computerschriften zur Weiterentwicklung. Die „Sichtbarmachung des Sichtbaren“ steht damit für die Materialitätsforschung und die kreative Arbeit mit dem historischen Schrifterbe Berlins.
Das Berthold-Firmenarchiv und die Nachlässe von Günter Gerhard Lange und Bernd Möllenstädt
Armin Wernitz, der bei Berthold als Leiter der Abteilung Marketing und Kommunikation tätig ist, kann nach dem Konkurs einen Großteil der Bestände vor der Vernichtung und dem Verkauf bewahren. 1994 übereignet er Firmenunterlagen und eine große Anzahl von Objekten aus dem Blei- und Fotosatz an das Deutsche Technikmuseum Berlin. Eine Nachlieferung erfolgt 2015.
2011, drei Jahre nach Günter Gerhard Langes Tod, geht auch dessen künstlerischer Nachlass an das Technikmuseum Berlin. Das geflügelte Wort „GGL ist Berthold“, das nur aufgrund seiner 40 Jahre währenden Integrität für Berthold entstehen konnte, spiegelt sich auch in seinem Nachlass deutlich wider. Die darin enthaltene Forschungsbibliothek GGL zeigt sein breites Interesse für Geschichte und Kultur, für die Wechselwirkung von Schrift und Typografie mit Malerei, Architektur, Fotografie, Musik und Literatur. Als das Arbeitsmittel erster Wahl ist die Forschungsbibliothk für sein Schriftschaffen, Forschung, Lehre und Vorträge elementar. Der Umfang von etwa 6.000 Materialien enthält neben Arbeiten aus der Studienzeit unzählige Zettel (sogenannte Einmerker), Notizen und Konzepte, Originaldokumente, Korrespondenzen, Bücher, Kataloge, Zeitschriften, Artikel und Fotografien. Sobald der Nachlass nach seiner Erschließung der Öffentlichkeit zugänglich ist, bietet dieser — wie von GGL gewünscht — allen Interessierten eine reiche Quelle für Studien und Forschung.
Einige Zeit später komplettiert zuerst die Berthold-Sammlung, 2013 schließlich die Berthold-Bibliothek aus dem Bestand von Bernd Möllenstädt das Firmenarchiv. Letztere enthält wertvolle Schriftproben und Musterbücher von Berthold sowie konkurrierender Unternehmen aus dem In- und Ausland. Die digitalisierten Objekte aus diesem Bestand sind online hier einsehbar.
Alle Bestände sind heute geschützt und gesichert, konnten aus Kapazitätsgründen bisher jedoch noch nicht vollständig verzeichnet und zugänglich gemacht werden. Mit den digitalisierten Matrizen, Zurichtungen und Gießzetteln der H. Berthold AG sowie dem digiS-Projekt zur Digitalisierung der Schriftproben bis 1951 ist nun ein erster Schritt getan, die Sichtbarkeit dieses untrennbar mit Berlin verbundenen Unternehmens zu erhöhen. Angesichts der kaum zu überschätzenden Bedeutung der H. Berthold AG für Berlins Typografiegeschichte bilden die Bestände im Technikmuseum Berlin eine unverzichtbare Basis für die Forschung. Denn: die Historie von Berthold und seinen Akteuren ist noch lange nicht zu Ende geschrieben.
Kirsten Solveig Schneider
Literatur
- Hermann Hoffmann [Hrsg.]: Das Haus Berthold 1858—1921 : zum 25jährigen Bestehen der Aktiengesellschaft herausgegeben. Berlin : A. Wohlfeld in Magdeburg, 1921. Mit einem Vorwort von Oscar Jolles.
- H. Berthold AG : 100 Jahre Berthold. Berlin : H. Berthold AG, 1958.
- H. Berthold AG [Hrsg.] : Die Berthold Gruppe. Berlin : H. Berthold AG, 1973.
- Berthold Journal: 125 Jahre · 125 Years · 125 Ans. Alles Gute zum Geburtstag ; Happy Birthday to you; Joyeux anniversaire. Berlin : H. Berthold AG [1983].
- Dagmar Welle: Deutsche Schriftgießereien und die künstlerischen Schriften zwischen 1900 und 1930 : C.2. H. Berthold AG. Regensburg : Roderer, 1997, Seite 106—118.
- Hans Wenck: Fotosatztechniken : Titelfotosatz, Kompaktsysteme, Verbundsysteme, Fachwörter-ABC, Fachrechnen. Itzehoe : Verlag Beruf + Schule, 1983.
- Joachim-Hans Schmidt: „Tüfteln und Wanderzirkus. Fotosatz-Geschichte: Erinnerungen von Joachim-Hans Schmidt an seine Zeit bei der H. Berthold AG 1959 bis 1985.“ In: Jorunal für Druckgeschichte, Neue Folge 6 (2000) No. 1., Seite w143 –w146.
- Typografische Monatsblätter, 71. Jahrgang, Heft 2. Sonderheft Günter Gerhard Lange. Zürich, 2.2003.
- Bleilettern aus Kreuzberg erobern die Welt : Faschismus, Zwangsarbeit und die Schriftgießerei H. Berthold. Herausgegeben von dem Arbeitskreis Berthold AG der Schule für Erwachsenenbildung e.V., Berlin, 2015.
- Berliner Illustrirte Zeitung. Sonderausgabe zur TYPO Berlin 2018. Das Wochenend-Magazin der Berliner Morgenpost. Berlin : Sonntag, 13. Mai 2018.
- Oscar Jolles: Zur Erinnerung an einen Buchliebhaber, Förderer der Gutenberg’schen Kunst und hebräischer Lettern. Herausgegeben von dem Arbeitskreis Berthold AG der Schule für Erwachsenenbildung e.V., Berlin, 2019.
- Erik Spiekermann: „Messen mit dem Mäusedarm.“ Beitrag zum 100. Geburtstag von Günter Gerhard Lange auf der Website gglange.org. Online verfügbar unter: https://www.gglange.org/de/erik-spiekermann-messen-mit-dem-maeusedarm/, abgerufen am 31.01.2022.
- Michael Lang: „Zum 100. Geburtstag von Günter Gerhard Lange.“ Blogbeitrag auf der Website der Typographischen Gesellschaft München (tgm). Online verfügbar unter: https://tgm-online.de/guenter-gerhard-lange-100/, abgerufen am 31.01.2022.
- „H. Berthold AG.“ Eintrag auf der myfonts-Website. Online verfügbar unter: https://www.myfonts.com/foundry/H._Berthold_AG/, abgerufen am 31.01.2022.
- „H. Berthold AG.“ PDF-Download des Digitalen Schriftarchiv zum Klingspor-Museum Offenbach. Online verfügbar unter: http://www.klingspor-museum.de/Schriftgiessereien.html, abgerufen am 31.01.2022.
- „Dia-Schrank-Rahmen der H. Berthold AG, nach 1960.“ Online verfügbar unter: https://technikmuseum.berlin/objekt/dia-schrank-rahmen-der-h-berthold-ag-nach-1960/, abgerufen am 31.01.2022.
Ausblick
Weitere Informationen zu Günter Gerhard Lange finden sich auf der anlässlich seines 100. Geburtstag freigeschalteten zweisprachigen Website gglange.org von Kirsten Solveig Schneider. Die Seite gibt Einblicke in sein Leben und Werk, die Arbeit bei der H. Berthold AG, seine Schriften, Vorträge und Publikationen. Freunde und Wegbegleiter wie Erik Spiekermann, Eckehart SchumacherGebler und Jost Hochuli erinnern in kurzen Statements an einen Großen ihrer Zunft.
➔ www.gglange.org/
Bertholds Akzident Grotesk hängt eng zusammen mit dem von Karl Gerstner entworfenen System „Gerstner Programm“. Auch für andere Schriften fand eine Zusammenarbeit zwischen Gerstner und Berthold statt. Das Archiv Karl Gerstner befindet sich in der Schweizerischen Nationalbibliothek. Die original Schriftentwürfe können vor Ort eingesehen oder via die Archivdatenbank http://www.HelveticArchives.ch recherchiert werden.