Digitale Lektüretipps 25: Kuratierte Datensets aus den Digitalisierten Sammlungen: Coding Gender – Binary / Non-binary
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
Das im Folgenden vorgestellte Datenset „Binary / Non-binary“ wurde für den Kulturhackathon „Coding Gender“ zusammengestellt; weitere Informationen dazu finden Sie in unserem digitalen Lektüretipp 5.
Datenset Binary / Non-binary – Konstruierte Polarität der Geschlechter
Seit Jahrhunderten baut der Diskurs über Geschlecht auf der Vorstellung zweier klar getrennter und gegensätzlicher Kategorien auf, „Frau“ und „Mann“. Diese binäre Polarisierung wird etwa in Christian August Fischers „Ueber den Umgang der Weiber mit Männern“ deutlich, einem Benimm-Buch für junge Frauen aus dem Jahr 1800. Fischer belehrt sein Zielpublikum folgendermaßen:
Die Bildung der beyden Geschlechter ist der höchste Triumph der Natur. Zwey so ähnliche Wesen, und doch so verschieden (…). Betrachtet Mann und Weib; das Geschlechts-Verhältniß tritt immer zwischen sie; alle ihre Empfindungen knüpfen sich an diesen Instinkt. (S. 12; 47)
Freundschaft zwischen Frauen und Männern ist also ausgeschlossen; dass es noch etwas anderes als die zwei genannten Geschlechter oder die (als unausweichlich dargestellte!) gegengeschlechtliche sexuelle Anziehung geben könnte, ist in dieser Perspektive so undenkbar, dass es nicht einmal einer Negation bedarf.
Diese angebliche Naturgegebenheit des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern wird allerdings schon wenige Jahrzehnte später durch Heinrich Hössli, der mit „Eros. Die Männerliebe der Griechen“ eine der ersten Abhandlungen über Homosexualität verfasste, in Zweifel gezogen. Hössli betont stattdessen deren kulturelle Bedingtheit:
Die Art und Weise, wie die Begebenheiten und die Naturerscheinungen von den Genossen einer jeden Zeit aufgefaßt und verstanden werden, hängt mit dem ganzen Zustande und Schicksal ihrer Kultur und allen Einrichtungen des öffentlichen und des Privat-Lebens auf das genaueste zusammen. (S. XIII)
Hössli war in seiner Zeit ein Einzelfall; der binär/heteronormative Diskurs konnte sich noch lange Zeit in medizinischer, psychologischer, sozialer und juristischer Perspektive als Standard halten, bis in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert nach und nach mehr Gegenstimmen laut wurden, die diese Normen aufzubrechen und Alternativen zu thematisieren suchten.
Einen wichtigen Beitrag dazu leistete der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935) mit seinen Schriften wie beispielsweise dem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“. In den Digitalisierten Sammlungen finden sich einige Briefe von Hirschfeld, etwa ein Brief vom 10. Juni 1901 an Gerhart Hauptmann, dessen Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Darin schreibt Hirschfeld an den Schriftsteller:
Auch diesen Winter hat von dem vielen, was ich als regelmäßiger Theaterbesucher sah, nichts so tief und nachhaltig auf mich gewirkt, wie „Michael Kramer“. (…) Die Tageskritik, welche diesem Werke nicht die volle Anerkennung zollte, hat das ungünstige Urteil nicht diesem, sondern sich selbst gesprochen. Die Gestalt der Michaeline hatte für mich, der ich in dem Studium sexueller Zwischenstufen eine Lebensaufgabe sehe, ganz besonderes Interesse (…).
Hauptmanns Drama „Michael Kramer“, das 1900 in Berlin uraufgeführt wurde, beschreibt das familiäre Unglück des titelgebenden Kunstmalers, dessen Sohn zwar künstlerische Begabung, aber keine Neigung zur Arbeit und zu einem bürgerlichen Leben zeigt; die Tochter Michaline dagegen, ebenfalls Malerin, unterstützt die Familie finanziell durch ihre Tätigkeit als Kunstlehrerin. Gleich in der ersten Szene kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Michaline und deren Mutter, die ihr vorwirft, gar keine Frau zu sein, sondern zu sprechen und zu denken wie ein Mann. Michaline ist davon wenig beeindruckt. Ihr nicht-rollenkonformes Verhalten – sie raucht Zigaretten – kommentiert sie auch später lapidar damit, dass sie zwar wisse, dass das nicht weiblich sei, die Einsicht aber leider zu spät komme. Mit Michaline hat Hauptmann eine Figur geschaffen, die auf eine fast beiläufig-leichte Art mit den gesellschaftlich vorgezeichneten Geschlechterrollen bricht – kein Wunder, dass diese Figur Hirschfeld sympathisch war.
Eine Übersicht aller Dokumente des Datensets „Binary / Non-binary“ finden Sie hier.
Wenn Sie sich wissenschaftlich mit diesen Dokumenten und den oben skizzierten Fragestellungen auseinandersetzen möchten, haben wir natürlich auch digitale Forschungsliteratur für Sie im Angebot, beispielsweise die Zeitschriften TSQ – Transgender Studies Quarterly, GLQ – A Journal of Lesbian and Gay Studies und differences – A Journal of Feminist Cultural Studies aus dem eJournal-Paket von Duke University Press, oder eBooks aus der Schriftenreihe Queer Studies des transcript-Verlags.
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