„Ich bin keine Fremde, ich bin Euer Freund …“ – Mrs. Jella Lepman
Die Dichter und Schriftsteller aller Nationen sollten es als ihre besondere Ehre betrachten, Bücher für die Kinder zu schreiben. Auch heute noch ist das Kinderbuch ein Stiefkind der großen Literatur, obgleich die internationale Verständigung durch Kinderbücher zu einem festen Begriff unseres Zeitalters geworden ist.
Jella Lepman
Sie zeigte aber nicht nur, sie zwang alle, die zur Kinderliteratur gehörten, politisch zu wirken. Sie verband und verbündete sie und scherte sich den Teufel um Regeln und Prioritäten. Sie glaubte an die Macht der Literatur, […] und sie hat uns wahrhaftig alle gezwungen, ihre Nachfolger zu werden.
Sybil Gräfin Schönfeldt
Wenn die Internationale Jugendbibliothek in München am 13. September 2024 ihren 75. Jahrestag begeht, wird sie wieder in aller Munde sein: Jella Lepman – Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek in München und des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch, geboren 1891 in Stuttgart, 1970 in Zürich gestorben.
Aber trotz ihrer herausragenden Leistungen für das Kinder- und Jugendbuch, begleitet von der Idee der Völkerverständigung und der Liebe zum Kind, ist Jella Lepman in ihrer Heimat weitgehend vergessen.
Im Februar 2025 erscheint das dritte Kinderbuch über Jella Lepman, wieder im angelsächsischen Raum und wieder mit gefällig-pastelliger Einbandgestaltung. Flankiert vom patenten „Hoppla, jetzt komm ich“-Tonfall der Autobiografie, die sich jede Larmoyanz versagt, entsteht allzu leicht der Eindruck, Lepmans Leben und Schaffen sei die bilderbuchmäßige Heldenreise einer emanzipierten Kinderbuchtante gewesen.[1]
„Eine Meise möchte ich sein oder eine Sonnenblume oder …“*
Begreift man Emil Tischbein als kindliches Alter Ego Erich Kästners, so wäre Pony Hütchen wohl das von Jella Lepman. Und dies nicht wegen ihrer „in die Stirn gezogenen Haarlocke“ und ihres bemerkenswerten Hutgeschmacks (teilweise „sündhaft teuer!“). Nein, ebenso wie Emils Cousine wusste sich Lepman klug, patent und selbstbewusst unter lauter Jungen zu behaupten. [2]
Ein wendungsreiches und beschwerliches Leben lang.
„Es scheint mir, als lebte ich nicht ein Leben, sondern viele.“
Jella Lepman war Stuttgarterin, Jüdin, Tochter, Schwester, Pianistin, Ehefrau, Mutter, Witwe, Alleinerziehende, Exilantin, Journalistin, Redakteurin, Kosmopolitin, Autorin, Netzwerkerin, Feministin und Menschenfängerin. Ihre Zeitgenossen erinnerten sich ihrer als agile Person, außerordentlich quirlig, einnehmend, wortgewandt, begeisternd, zielbewusst, energisch, diplomatisch, immer gut unterrichtet, humorvoll, spontan, charmant, konziliant, exzentrisch, aber hart und klar bei der Verfolgung ihrer Ziele. Und als „alte Streitaxt Lepman“.
„,Was für ein entzückendes Hütchen‘, rief sie begeistert.“
Und besonders häufig findet Erwähnung, wie äußerst fashionable Jella Lepman war, selbst die Uniform habe an ihr gewirkt wie ein Schneiderkostüm! Gräfin Schönfeldt beschrieb Lepman nach ihrem ersten Zusammentreffen als hochgewachsene Dame im eleganten Kostüm, den Hut garniert mit Schleier, Hutnadel und Blumengesteck, um den Hals ein Pelzkragen, gestützt auf einen Stock (wahrscheinlich aus Ebenholz) mit einem Silberknauf.
„Glaubst du wirklich, dass der Nazigeist tot ist?“
Jella Lepman kam nicht nach Deutschland zurück. Ihren Auftrag von der U.S. Army, als Beraterin für die Belange der Frauen und Kinder nach Deutschland zu gehen, verstand sie als zeitlich begrenztes Mandat. Sie kam, um den deutschen Kindern, diese „Kinder auf de Trümmerle“, eine Perspektive zu geben, hatte aber nicht vor, zu bleiben. Darum richtete sie sich zwölf Jahre lang keine eigene Wohnung ein, sondern wohnte immer zur Untermiete in verschiedenen Haushalten. Auch bekleidete sie nie den Direktorinnenposten in der von ihrer gegründeten Bibliothek, sondern firmierte „nur“ als Beraterin. „Keinesfalls“, so schrieb sie ihrer Sekretärin Eva Maria Ledig, „werde ich mich von einer deutschen Organisation anstellen lassen, ich würde dies nie, nie akzeptieren. Es würde nicht funktionieren. Ich kann es nicht.“
Sie blieb die Mrs., wurde nie wieder Frau Lepman.[3]
„Kinderbuch und Kinderkunst gehören eng zusammen …“
München, vormals „Hauptstadt der Bewegung“, war nach Kriegsende als neues geistiges Zentrum Deutschlands angedacht. Und der Ort, an dem sich die erfolgreiche Ausstellung internationaler Kinderbücher und Kinderzeichnungen 1946 erstmalig präsentieren soll.
Jella Lepman wird ein großer Sinn für Humor nachgesagt, und aus der Autobiographie liest sich heraus, dass ihr die ironische Komponente bei der Entscheidung, die Erste Internationale Jugendbuchausstellung in Hitlers hochgeschätztem Haus der Deutschen Kunst zu veranstalten, bewusst war. Immerhin hatte sich dieser bei der Eröffnung 1937 mit Leidenschaft gegen die moderne Kunst ausgesprochen und nachdrücklich betont: „… dass das Kunstgestammel dieser letzten Jahrzehnte, das den ungefügen Leistungen von etwa acht- bis zehnjährigen, untalentierten Kindern entsprach, auch unter keinen Umständen etwa als Ausdruck unserer heutigen Zeit oder gar der deutschen Zukunft gewertet werden kann.“ Denn „… das Haus der Deutschen Kunst zu München ist gebaut vom deutschen Volk für seine deutsche Kunst.“
Und nun dieser Einzug der zahlreichen Kinderzeichnungen, die Jella Lepman aus Deutschland, Amerika, Schweden, Schweiz, England, Frankreich und der Sowjetunion angefragt hatte, „denn diese Bilder sprechen eine internationale Sprache und werden die Kinder beglücken.“
Beglückt haben diese Kinderzeichnungen auch Jella Lepman selbst, die sie bis an ihr Lebensende sammelte, an die Wände ihrer Wohnung hängte und, wie eine stolze Mutter, als Geschenke an Winston Churchill und Martin Buber übersandte. Und an deren Veröffentlichung sie bis zu ihrem Tod arbeitete.[4]
„Ferdinand war ein Riesenerfolg, seine Schöpfer hätten den Friedens-Nobelpreis verdient.“[5]
Jella Lepman begeisterte sich für Bilderbücher und forderte, dem Bilderbuch dieselbe künstlerische Wertschätzung entgegenzubringen wie den erzählenden Werken. Sie liebte Babar und Wo die wilden Kerle wohnen, Thomas Mann bekam von ihr Der glückliche Löwe zum 80. Geburtstag geschenkt. Besonders aber berührte sie Ferdinand der Stier, ein Bilderbuch über ein friedliebendes Krafttier, das bereits 1936 in New York erschienen war und dem sowohl eine dramatische Rezeptionsgeschichte als auch eine große und prominente Fangemeinde nachgesagt wurde.
Sie übersetzte diesen Bestseller und gab ihn im Dezember 1946 als Weihnachtsgabe für die Berliner Kinder (und werbebegleitend zum Berliner Gastspiel ihrer berühmten Buchausstellung) heraus. Über Nacht ließ sie im Druckhaus Tempelhof 30.000 Exemplare auf Zeitungspapier drucken. Allerdings ohne den Autor Munro Leaf, den Illustrator Robert Lawson oder den Viking Verlag vorher um Erlaubnis zu fragen. Mit diesem Zweiblattgeschenk publizierte Jella Lepman den wohl auflagenstärksten Raubdruck der Nachkriegsgeschichte.
Urheberrechte? Copyright? Die Autorin, Journalistin und Redakteurin Jella Lepman dazu: „Das war ganz einfach – wir hatten es völlig vergessen.“
(Ohne Bezug zu dieser Geschichte sei erwähnt, dass Jahre später die Schriften ihres Cousins Max Horkheimer Spitzenpositionen im Titelkatalog der linken Raubdruckbewegung einnahmen.)
„Kinder und Erwachsene strömten in hellen Haufen in dieses Zirkuszelt!“
Jella Lepman verstand es also, für ihre Sache zu werben und legte viel Wert auf Öffentlichkeitsarbeit. Manche Beobachter und „Bibliotheksbürokraten“ bezeichneten das Treiben in der neugegründeten Internationalen Jugendbibliothek als Zirkus. Nun ja – da das Haus in der Kaulbachstraße 11a gern als Termin im Damenprogramm für hochrangige in- und ausländische Politikergattinnen genutzt wurde, wusste Lepman ihren Nutzen daraus zu ziehen. So wurden vor Eintreffen der prominenten Besucher ganze Schulklassen telefonisch angefordert, bis das Haus vor Publikum schier überquoll und der Eindruck überwältigend war. Die nachfolgenden begeisterten Berichte und der daraus erwachsene Zuspruch legitimierten und befeuerten derartige Inszenierungen.
„,Und wie wird Ihr Katalog aussehen?‘ begannen die Fachleute mich tückisch zu fragen.“
Jella Lepman konnte aber auch uneinsichtig sein und sehr verletzend werden.
Bürokratische Dienstwege und strikte Vorgaben waren ihr ein Gräuel. Sie unterwarf sich ihnen, so sie nicht zu umgehen waren, nutzte sie, wenn sie dienlich waren, aber wenn es sich vermeiden ließ, suchte sie sich davon freizumachen. Ihre Denkweise galt als amerikanisch und das war die (in Deutschland noch unübliche) Freihandaufstellung in einer Kinderbibliothek auch. Sowieso war nach Expertenmeinung alles viel zu unkonventionell, unbürokratisch und lebendig in der IJB! Trotzdem gedieh die Bibliothek. Gab es Kritik von Seiten der „deutschen Bibliotheksbürokraten“ (in- und aushäusigen und häufig mit der Herabsetzung versehen, Mrs. Lepman sei ja nicht vom Fach), so ließ diese mit ihrer durchdringenden Stimme gut hörbar verlauten: „Bibliothekare sind subalterne Wesen.“
Gleichwohl verlange Jella Lepman von diesen „Subalternen“ bibliothekarische Präzisionsarbeit.
Denn – auf Präzision verstand sie sich.
„… gelegentlich schmale Brotverdienstarbeit.“[6]
Einer Bibliothek seinen Nachlass zu überlassen, kann unterschiedliche Gründe haben. Neben der Unterstützung von Wissenschaft und Forschung und möglichem Nachruhm ist die gesicherte Aufbewahrung ein häufiges Motiv des Nachlassers bzw. seiner Erbengemeinschaft. Unterschiedliche Gründe können aber nachträglich auch zu Entscheidungsreue und sogar zu kriminellen Handlungen führen.
So schenkte im Jahr 1938 die Witwe Olga Schnitzler den bedeutenden Nachlass des 1931 verstorbenen Arthur Schnitzlers dem Archiv der Universitätsbibliothek Cambridge, um die Manuskripte, Notizen und Korrespondenzen vor dem Zugriff der Nazis zu schützen. Nur: Das Ehepaar Schnitzler war seit 1921 geschieden und Olga Schnitzler nicht verfügungsberechtigt. Das war der gemeinsame Sohn Heinrich, der bereits in den Vereinigten Staaten lebte und den väterlichen Nachlass auch lieber dort gepflegt und ausgewertet sehen wollte. Also beschloss seine Mutter, die in Cambridge die Papiere sortierte, Abschriften einiger Werke anzufertigen zu lassen. Ein Unterfangen, welches der Sohn als wissenschaftlich nutzlos erachtete. Immerhin unterscheiden sich Typoskripte neben der Papierqualität auch durch Schriftart und Herstellerfirma der Schreibmaschine als auch durch Bedienungsfehler, Eigenarten und Vorlieben der Typistinnen. Überdies würden die charakteristischen Bleistiftnotizen fehlen, mit denen Arthur Schnitzler die Seiten bedeckt habe, denn: „Das kann keine Sekretärin der Welt.“
Um es kurz zu machen: Hier irrte Schnitzler junior. Jella Lepman, die von Ende Oktober 1938 bis März 1939 Olga Schnitzler bei der Bearbeitung des Nachlasses unterstützte, schien das richtige Händchen (und die richtige Schreibmaschine!) besessen zu haben, denn im Januar 1939 schrieb Olga Schnitzler beharrend an ihren Sohn: „Ich schicke Dir das ‚Original‘ von der ‚Physiologie d. Schaffens‘ damit Du es 1. behältst, 2. selbst siehst, dass es genau copiert wurde.“
Diese getreulichen Kopien erwiesen sich dann auch als ausgezeichneter Ersatz für die von Olga Schnitzler aus dem Archiv entwendeten und nach Amerika geschickten Originale. Ob Jella Lepman vom fälschlichen Einsatz ihrer Reproduktionen wusste, darüber hat sie sich ausgeschwiegen.
„Ich hatte mir eine Rede aufgeschrieben …“
Vor fünf Jahren feierte die Internationale Jugendbibliothek ihr 70-jähriges Bestehen, und der großartige Arne Rautenberg hielt eine fabelhafte Festrede, in der er auch über Jella Lepmans Liebe zu Kinderzeichnungen sprach und in diesem Rahmen auf das Picasso-Zitat verwies, dieser habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.[7]
Mit einem Picasso-Zitat lässt sich hier auch gut enden: „Unter den Menschen gibt es viel mehr Kopien als Originale.“
Anmerkungen
* Alle Überschriften stammen aus Die Kinderbuchbrücke von Jella Lepman. Die dort genutzte Rechtschreibung wurde übernommen.
[1] Im Februar 2025 erscheint die Bilderbuchbiografie Jella Lepman and her Library of Dreams von Katherine Paterson, illustriert von Sally Deng. Zwei weitere Biografien für Kinder sind bereits auf dem Markt: The Lady with the Books von Kathy Stinson, illustriert von Marie Lafrance (2020) und Books for Children of The World: The Story of Jella Lepman von Sydelle Pearl mit Illustrationen von Danlyn Iantorno (2007).
Absolut empfehlenswert ist die vom Antje Kunstmann Verlag 2020 neu herausgegebene und mit zahlreichen Bildern, Anmerkungen und einem Personenregister bereicherte Autobiografie Die Kinderbuchbrücke von Jella Lepman. (Signatur: KJ LS Lt 6161)
[2] Und konnte so lange „maunzen“, bis sie ihren Willen bekam. Zum Beispiel, dass ihr Freund Kästner ein Kinderbuch nach ihren Vorstellungen schrieb, und zwar: Die Konferenz der Tiere.
Hildegard Hamm-Brücher erinnerte sich an eine Frau, die für ihre Idee: „mit Engelszungen reden, wie ein Rohrspatz schimpfen, wie ein Hausierer betteln und wie ein Top-Manager organisieren konnte (und bei alldem oft hilflos schien, wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen).“
[3] Jella Lepman wurde häufig für eine Amerikanerin gehalten, auch wegen ihres Nachnamens. Sie war eine geborene Lehmann, Frau Lepman wurde sie nach der Hochzeit mit Gustave Horace Lepman, dessen Familie im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert war und mit anglisiertem Familiennamen um die Jahrhundertwende zurückkehrte.
[4] Begleitend zum Thema Kinderzeichnungen seien das Buch von Alfred Brauner J’ai dessiné la guerre. Le dessin de l’enfant dans la guerre (Signatur: KJ LS Ez 1255) und Gundel Mattenklotts Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945 (Signatur: KJ LS Ck 6065) empfohlen.
[5] Dass der Nobelpreis als wichtigster Wissenschaftspreis der Welt nicht an Kinder- und Jugendbuchautoren verliehen wird, verdross die Fans von Astrid Lindgren so lange sie lebte. Dabei bekam diese bereits 1958 den von Jella Lepman Initiierten Hans Christian Andersen Preis überreicht, der erstmalig im Jahr 1956 an Eleanor Roosevelt verliehen und als der „Nobelpreis der Kinderliteratur“ angesehen wurde. Diese führende Rolle musste der (undotierte) Andersen Preis 2002 abgeben, ausgerechnet an den Astrid Lindgren Memorial Award, ein Preis, den die schwedische Regierung nach dem Tod der Autorin stiftete und der mit rund 420.000 Euro dotiert ist. Preisträgerin beider Auszeichnungen ist die Autorin Katherine Paterson.
[6] Der Nachlass Arthur Schnitzler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, und ich möchte an dieser Stelle auf den von mir genutzten Beitrag von Kristina Fink hinweisen. https://www.arthur-schnitzler.de/biobibliographika/nachlassgeschichte/
[7] Ein Auszug der Rede kann hier nachgelesen werden: https://www.literaturportal-bayern.de/text-debatte?task=lpbblog.default&id=1940
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