Matern-Kontrollkarte und Gusszettel „Post Versal“, SDTB, Historisches Archiv

Schriftgestaltung in der Longue Durée – Neue Zugänge zu Matrizen, Zurichtungen & Gießzetteln der H. Berthold AG im Depot des Deutschen Technikmuseums

Ein Gastbeitrag von Kerstin Wallbach (Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin) und Dr. Dan Reynolds (Hochschule Niederrhein), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats unseres gemeinsamen digiS-Digitalisierungsprojekts Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access mit Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin. Please find an English version of this article here.

Den Schriftguss, die Herstellung von Schriftmaterial aus Letternblei, wird es aufgrund seiner Komplexität und einer nur noch sehr reduzierten Nachfrage in Zukunft in der Praxis immer seltener geben. In diesem Zusammenhang möchten wir an dieser Stelle besonders auf die in letzter Zeit erschienenen Interview-Filme und Artikel über den Schriftgießer Rainer Gestenberg aus Darmstadt hinweisen.

Für die Zielgruppe junger Menschen, die sich im Rahmen verschiedener Ausbildungen und Studiengänge mit Schrift und Medien beschäftigen, gilt es – neben beispielsweise auch Berufsgruppen in den Bereichen Bestandserhaltung des schriftlichen Kulturguts oder im Bereich Markenrecht – weiterhin, möglichst viele grundlegende Informationen über die Herstellung von Schrift für die Zukunft zu sichern und zugänglich zu machen. Die Matrizensammlung der H. Berthold AG, die 1993 als Schenkung in das Deutsche Technikmuseum gelangte, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Bestand, für dessen Erschließung das eingangs erwähnte Kooperationsprojekt zur Digitalisierung Berliner Schriftproben das Fundament legt.

Die ersten schriftlich dokumentierten Kontakte zwischen dem Deutschen Technikmuseum, damals noch Museum für Verkehr und Technik, und der Berliner Schriftgießerei H. Berthold AG gehen noch auf die Zeit vor der Gründung des Museums in das Jahr 1982 zurück. Sie standen in Zusammenhang mit dem 125-jährigem Firmenjubiläum der damals noch existierenden Firma am 1. Juli des Folgejahrs. Der Gründungsdirektor des Deutschen Technikmuseums Günter Gottmann erwähnte in einem Brief an ein Vorstandsmitglied der Firma vom 18.2.1982 den „Schatzkeller“, den ein Mitarbeiter des Museums vor kurzem besichtigt und den die H. Berthold AG, besonders ein Herr Bleicke, über „schwierige Jahre gerettet“ habe. Das besondere Interesse des Museums an diesen Beständen begründete Gottmann in dem genannten Brief einerseits mit der „Notwendigkeit des Erhalts und der Dokumentation der Geschichte bedeutender Berliner Betriebe“, sowie andererseits mit der Bedeutung des Schriftgusses als „eine wichtige Stufe in der historischen Darstellung der Schrift bis zum heute sich herausschälenden Fotosatz“, wobei es damals bereits erste Computer gab. Für die im Jahr 1983 eröffnete Dauerausstellung zur Schrift- und Drucktechnik erhielt das Museum verschiedene Objekte der „technischen Ausstattung und Erzeugnisse der Fa. Hermann Berthold Schriftgießerei und Messinglinienfabrik gegr. 1. Juli 1858“ als Schenkung, die sich auch heute noch in der überarbeiteten Dauerausstellung befinden, wenn auch nicht, wie damals geplant, vorführfähig. Die seitdem hinzugekommenen und bis heute immer wieder ergänzten Bestände der H. Berthold AG in Archiv, Bibliothek und Objektsammlungen des Deutschen Technikmuseums wurden bereits mehrfach thematisiert. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht dagegen die in einem Außendepot des Museums vorhandene Sammlung an Matrizen mit den dazugehörigen Zurichtungen und Gießzetteln.

Druckerzeugnisse und Schriftmuster wurden mit Lettern gedruckt. Für ihre Herstellung benötigte man Matrizen, auch Matern genannt, als Gussformen. Sie sind damit so etwas wie das „Herz“ des gesamten Bleisatz-Systems. Historisch betrachtet waren auch die Rechte an einer Schrift lange Zeit an den materiellen Besitz der Schriften gebunden, also an Patrizen und Matrizen als eine Art „Lizenz zum Drucken“. In diesem Zusammenhang empfehlen wir einen englischsprachigen Beitrag über einen wichtigen Bestand an Patrizen, die über die Schriftgießerei Decker sowie die Reichs- und die Bundesdruckerei ins Deutsche Technikmuseum gelangten.

Die Herstellung von Schriften erfolgte ähnlich wie heute innerhalb eines Spannungsfelds zwischen Entwicklung, Urheberschaft, Lizenz- und Vertriebssystemen auf der Basis wirtschaftlicher Interessen. Große Schriftgießereien wie die H. Berthold AG besaßen eigene Werbe-, Patent- und Rechtsabteilungen. Auch damals wurde großen technologischen Umbrüchen aus verschiedenen Gründen oft nur retrospektiv und nicht vorausschauend begegnet. Es gab lange Phasen parallel verlaufender Nutzungen verschiedener Drucktechniken, begründet u.a. durch die notwendige und rechtlich definierte Aufrechterhaltung von Serviceangeboten und Routinen für den Alt-Kundenbestand, spezialisierten Anwendungsbereichen, hohen Investitionskosten, regionalen Besonderheiten, Ressourcenknappheit, ahistorisch verlaufenden Transformationsprozessen und beispielsweise als Folge von Kriegen oder – speziell in Berlin – der Deutschen Teilung. Eng verbunden damit wiederum war das Schicksal und die Interessen vieler Beschäftigter in diesen Bereichen, die sich, teilweise mehrfach, im Rahmen ihrer Erwerbsbiografien vollständig neuorientieren mussten.
Eine wichtige Fragestellung im Zusammenhang mit gegossenen, nicht nur am Bildschirm ausgewählten Schriftarten und Fontgrößen könnte sein: Wie verlief die praktische Zusammenarbeit zwischen Schriftgestalter:innen, die in den 1960er Jahren noch Schriftkünstler:innen genannt wurden, und den verantwortlichen Personen in den Firmenleitungen und in den Bereichen Produktion, Vertrieb und Werbung.

'Der Schriftgießer': Blätter zur Berufswahl, 1964

‚Der Schriftgießer‘: Blätter zur Berufswahl, 1964

Von Manfred Weber, der am 1. April 1960 seine Ausbildung als Schriftgießer bei der H. Berthold AG begann und dort bis 30. September 1967 tätig war, wissen wir, dass zu seiner Zeit in den Firmenbereichen, die mit der Produktion für den Bleisatz zu tun hatten wie Schriftguss, Schriftteilung, Schlosserei, Zurichtung, Messing, Galvanik und Schriftschneiderei etwa 100 Personen arbeiteten. Die Zusammenarbeit zwischen Schriftgießer und Schriftkünstler:innen schildert Manfred Weber im Jahr 2018 wie folgt:

„Vor der Tätigkeit des Schriftgießers gab es verschiedene vorgeschaltete Prozesse in den Bereichen Schriftentwurf und Schriftschnitt. Die Schriftkünstler arbeiteten in der Nähe der Schriftschneider. Sie arbeiteten im Prinzip Hand in Hand. Was der Schriftkünstler vorgab, der Entwurf, wurde später zuerst durch die Schriftschneider umgesetzt. In der Galvanisation wurden dann erste Matrizen als Gießformen für die zu gießende Schrift hergestellt. Erst danach ging es weiter zu den Schriftgießern an die Gießmaschine, wo zunächst Proben gegossen wurden. Der Schriftgießer entschied sich für eine bestimmte Laufweite der Buchstaben untereinander und für jeden Buchstaben einzeln. Der Schriftkünstler hat das dann nochmal für gut befunden oder nicht. Der eine oder andere Buchstabe musste dann ein bisschen dünner oder dicker werden oder sich in der Linie vielleicht noch etwas verändern. Der Schriftkünstler hat die Schrift dann nach dem Druck abgenommen, seine Schrift. Er war so etwas wie der Herr der Schriften. Er hat entschieden, ob das so gut war oder nicht. Dann ging es später so in die Produktion. Der Schriftgießer machte jeweils das Beste daraus, wenn er es nachher für das Schriftbild zusammenfügte. Und dann hat der Schriftkünstler irgendwann gesagt: Ja, so ist es gut, so kann die Dickte bleiben. Denn die war ja dann für ewige Zeiten vorgegeben, die Dickte des einzelnen Buchstabens.“

Manfred Weber, Schriftgießer in der H. Berthold AG, Anfang 1960, privat

Manfred Weber, Schriftgießer in der H. Berthold AG, Anfang 1960, privat

Die meisten Schriftgießer verbrachten ihr ganzes Leben innerhalb eines einzigen Betriebes. Auf die Frage, ob man sich ein bisschen betrogen fühlt, wenn man sein Leben auf einen Beruf ausgerichtet hatte, den es bereits kurz darauf nicht mehr geben sollte, antwortete Manfred Weber 2017: „Nein, das kann man so nicht sagen. Man hat daran gehangen, an seinem Beruf, es war eine schöne Zeit. Aber dass man sich betrogen fühlt, kann man so nicht sagen. Sehen Sie, sonst würde ich heute nicht hier stehen“. Mit diesem letzten Satz ist seine Bereitschaft gemeint, uns durch Interviews, seine Lehrhefte, Werkzeuge und Fotos einen deutlichen sichtbaren Pfad auch in die Zukunft zu weisen – ein wichtiger Beitrag für das Verständnis über die Entwicklungen von Schriften als Grundlage unseres Wissens und unserer heutigen Codes. Dieses Gespräch und auch die Digitalisate seiner Lehrhefte aus den Jahren 1960–1963 werden als Teil einer demnächst zu veröffentlichenden Interviewreihe zur H. Berthold AG, in der auch Alexander Nagel, Erik Spiekermann und Armin Wernitz vertreten sein werden, wichtige Einblicke über die Zeit des digitalen Wandels in Berlin seit den 1960er Jahren ermöglichen.

Schrank mit Matrizen der H. Berthold AG, Schubladen 001-240, SDTB/Foto: Malte Scherf

Schrank mit Matrizen der H. Berthold AG, Schubladen 001-240, SDTB/Foto: Malte Scherf

 

Schublade 144 mit Schrift „Signal“, SDTB/Foto: Malte Scherf

Schublade 144 mit Schrift „Signal“, SDTB/Foto: Malte Scherf

Um das Jahr 1945 brannte das Schriftenlager der H. Berthold AG in Folge von mehreren Bombentreffern vollständig ab. Auch auf einer Postkarte der Firma von 1946 steht: „Unser Mustermaterial ist durch die Kriegsereignisse vernichtet worden“. In den Berliner Beständen an Matrizen der H. Berthold AG könnten jedoch noch einige wenige Altmatern vorhanden sein aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Die Inhalte der Schubladen, in denen diese Matrizen nach Schriftgraden sortiert aufbewahrt wurden, werden aktuell in hoher Auflösung durch Fotografen des Deutschen Technikmuseums fotografiert und mit den (digitalisierten) Erschließungslisten aus dem Jahr 1993 und weiteren Unterlagen verglichen. In diesen Listen von 1993 sind die Schubladen 001 bis 470 in direktem Bezug zum Erschließungssystem der H. Berthold AG verzeichnet, zu dem es ein weiteres Karteikastensystem gibt, u.a. mit Matern-Kontrollkarten. Die Nummern 157–240 sind in den Listen nicht enthalten. Sie könnten zu dem Teil des Matrizen-Bestandes gehören, die vermutlich ab 1978 vom Letternservice Ingolstadt weitergenutzt wurden, um im Auftrag der H. Berthold AG Alt-Kunden, die noch im Bleisatz arbeiteten, auf Basis eines Lizenzsystems weiter zu beliefern. Zugangsmöglichkeiten zu Forschungsdaten und Bildmaterial durch Digitalisierungsprojekte können auch hier in der Zukunft gemeinsame und einrichtungsübergreifende Forschungen deutlich erleichtern und verbessern.

Eine Schlüsselrolle spielen dabei die in den Schubladen enthaltenen Gießzettel. Für den Berliner Bestand schätzen wir deren Anzahl derzeit auf ca. 800 Stück. Sie bilden eine wichtige Primärquelle für die Forschung, da sie konkrete Daten für den Workflow liefern wie: Namen der Schriftgießer, Anzahl und Zustand der Zeichen, wie oft und wann verschiedene Schriften gegossen worden sind, wie erfolgreich eine Schrift wurde oder ob sie sich nicht auf dem Markt durchsetzen konnte. Die geringe Qualität von Zellstoffpapieren bei technischem Schriftgut ist eine in technischen Museen weit verbreitete Realität. Im Fall der Gießzettel kommen jedoch auch korrosionsbedingte Abbauprozesse und eine starke Verschmutzung in Nutzungs- und Lagerungskontexten hinzu. Auch hier wird es spannend sein zu sehen, welche Wege unterschiedliche Einrichtungen und Akteur:innen in Zukunft einschlagen werden – angesichts großer Herausforderungen. Im Idealfall wird dieser Weg gemeinsam beschritten werden – wie wir es schon sehr oft erlebt haben, wenn es um „Berthold“ geht. Klares Ziel ist dabei, die Produkte einer sehr besonderen Berliner Firma mitzunehmen, wohin auch immer.

H. Berthold AG: Signal: die neue Werbe-Handschrift in der neuzeitlichen Werbe-Akzidenz

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