Digitale Lektüretipps 46: Allons enfants du patrimoine – le jour numérique est arrivé ! Über Frankreichs digitale Bibliothek Gallica
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
In Frankreich hat das Déconfinement, der Ausstieg aus dem Lockdown begonnen, die Départments werden in rote oder grüne Zonen mit weniger oder mehr Bewegungsfreiheit eingeteilt. Für die Verfasserin wird dieses Jahr der Urlaub in der Dordogne ausfallen – Zeit, sich ein bisschen digitalen Trost zu holen. Und zu rufen: Vive la France und Vive Gallica – diese digitale Bibliothek ist schlichtweg die Avantgarde der europäischen Digitalisierung en masse et avec classe!
Dabei begann alles eher wie ein distinguiertes Duell der Grande Nation mit einem Internetgiganten: als Google 2004 die „aufsehenerregende Ankündigung“ machte, innerhalb der kommenden sechs Jahre 15 Millionen urheberrechtsfreie Bücher aus einigen großen US-amerikanischen und britischen Bibliotheken zu digitalisieren und kostenlos online zu stellen, wirkte dies beim damaligen Präsidenten der Französischen Nationalbibliothek, Jean-Noël Jeanneney, wie ein „Trompetenstoß“. Er fürchtete unter anderem, das Projekt, damals noch Google Print und heute Google Books genannt, könnte die „Vorherrschaft“ der Lingua franca, also des Englischen, weiter ausweiten. Nachzulesen ist dies in seiner daraufhin entstandenen „Kampfschrift“ Quand Google défie l’Europe (2005), in deutscher Übersetzung als Googles Herausforderung bei Wagenbach erschienen. O-Ton Klappentext: „Jeanneney (…) warnt eindringlich vor einer schleichenden Aushöhlung des Urheberrechts, einer kulturellen amerikanischen Hegemonie und einer erdrückenden Dominanz der englischen Sprache (…). Denn Bücher sind für ihn Kulturgüter, deren digitale Archivierung (…) nicht einer kommerziell orientierten Privatwirtschaft überlassen werden darf.“
Jeanneneys europäischer Gegenentwurf sah folgendermaßen aus: die Vielfalt der Europäischen Kultur muss sich zusammentun! Jedes Land sollte sein Kulturgut digitalisieren und zusammenfließen lassen in einer großen europäischen Datenbank. Es ist Jeanneney zu verdanken, dass er sich damit in Frankreich für eine erhebliche Ausweitung von Gallica und auf europäischer Ebene für die Schaffung von Europeana, der 2007 online gegangenen Datenbank der europäischen Kulturinstitutionen, verdient gemacht hat.
In Europeana fließen Daten aus tausenden europäischen Museen, Bibliotheken und Archiven sowie weiteren Institutionen zusammen, deren Erschließungsdaten für die einzelnen Objekte (z.B. Bücher, Handschriften, Kunstwerke, Archivmaterialien) recht unterschiedlich sind und daher auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden mussten. Die Digitalisate sind dann über Server der liefernden Einrichtungen zugänglich. In Europeana, das den Zugang zu über 50 Millionen Dokumenten bietet, kann man daher sehr gut nach Hotspots für die eigenen Interessengebiete recherchieren und dadurch auf Einrichtungen stoßen, die besonders viel relevantes Material für die eigenen Forschungen enthalten. Oft lohnt es sich dann, von der übergeordneten Datenbank Europeana auf den ursprünglichen Lieferanten der Digitalisate (also die besitzenden Museen, Bibliotheken, Archive) zu wechseln, da die Ursprungsdatenbanken verfeinerte Recherchemöglichkeiten zulassen.
In dem heutigen Blog soll es also um Gallica der Französischen Nationalbibliothek gehen, die ursprünglich 1988 als „bibliothèque d’un genre nouveau“ von François Mitterand ins Leben gerufen wurde: zur Eröffnung des nach ihm benannten Neubaus am Ufer der Seine sollten 100.000 Bücher und 300.000 Bilder online sein. In der Anfangszeit waren es vor allem einzelne Zimelien, Handschriften, besonders kostbare, prachtvolle und schützenswerte Materialien, die digitalisiert wurden. Handverlesen, mit großem Aufwand ausgewählt und gewiss auch mit dem konservatorisch berechtigten Hintergedanken, sie fortan gut geschützt in den Tresormagazinen belassen zu können (dass diese Rechnung nicht immer aufgeht, ist eine andere Geschichte). Die digitale Bibliothek der Bibliothèque nationale de France (BnF) ging 1997 online. Das Profil dieser ersten Version von Gallica hatte einen Schwerpunkt in Geschichte, Literatur, Naturwissenschaften und Technik und umfasste:
– schwer zugängliche Dokumente, Erstausgaben, Rara
– Dokumente mit hoher Relevanz für die Forschung (z.B. Wörterbücher, Enzyklopädien)
– wichtige französische Autoren
– wichtige französische Zeitschriften
– wichtige französische Tageszeitungen
– kostbare Sondermaterialien (illuminierte Handschriften, Zeichnungen, Fotos, Karten, Porträts…)
Die Materialien waren überwiegend in französischer Sprache und umfassten aus Urheberrechtsgründen Objekte bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts, das bis heute den Schwerpunkt bildet.
Jedes Jahr kamen etwa 5.000 neue Werke hinzu. Jeanneney bewirkte eine Verzwanzigfachung dieser Summe: ab 2008 waren es über 100.000 neue Werke jährlich. Scanroboter schafften 2.500 Werke pro Woche. Tageszeitungen wurden aus ihren großen Folio-Einbänden befreit, digitalisiert und die Blätter anschließend nicht wieder neu gebunden, sondern lose in Archivkartons verwahrt. Für viele digitalisierte Werke wurde eine Volltexterkennung (OCR = optical character recognition, im Amtsfranzösisch: océrisation genannt) durchgeführt. Im Dezember 2009 verkündete Sarkozy eine weitere Steigerung der französischen Digitalisierungsstrategie. 2010 waren 1 Million Dokumente erreicht; kurz darauf fand der Umstieg auf eine neue Oberfläche statt. 2014 enthielt Gallica bereits 3 Millionen Dokumente, 2015 war es schon wieder Zeit für eine neue Oberfläche.
Ein lustig animiertes Video aus dem Jahr 2017 in französischer Sprache (zu diesem Zeitpunkt gab es „nur“ über 4 Millionen Dokumente) vermittelt einen ersten Eindruck der Vielfalt und der Nutzungsmöglichkeiten.
Heute enthält Gallica 6.747.380 Dokumente (Stand: 25.5.20), davon:
- 693.154 digitalisierte Bücher (davon etwa die Hälfte im Volltextmodus), z.B. Cyrano de Bergerac (Bergerac liegt schließlich in der Dordogne)
- 176.606 Karten (z.B. der Region Nouvelle Aquitaine, zu der die Dordogne gehört)
- 146.616 Handschriften
- 1.476.742 Bilder (darunter ein Plakat, wie man den Winter am Golf der Dordogne verbringen könnte)
- 498.003 Objekte
- 4.014.102 Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften
- 51.628 Partituren
- 51.185 Tondokumente (u.a. La Marseillaise oder die berühmte Nasenrede)
- 773.973 Dokumente von ca. 270 Partnerbibliotheken
Die Recherchemöglichkeiten gehen von einer einfachen Ein-Zeilen-Suche (fast möchte man sagen: à la Google) über eine erweiterte Suchmaske bis hin zu einer Vielzahl an sehr schön aufbereiteten thematischen Dossiers (sélections) und anderen sachlichen Zugängen (z.B. Gallica vous conseille). Dazu gehört auch ein geografischer Zugang, z.B. mit Karten und Plänen einzelner Länder. Oder brauchen Sie noch Inspiration für das nächste Gourmet-Menü nach Ende des Social Distancing? Dann schauen Sie bei Patrimoine Gourmand vorbei.
Einfach nur richtig gut gemacht ist die Social-Media-Gruppe mit Blog, Twitter-Account, Facebook-Profil, Pinterest, Instagram und dem guten alten Newsletter. In Gallica Studio können Nutzende ihre Projekte teilen; Pennäler sind eingeladen, sich mit Empfehlungen auf das Baccalauréat vorzubereiten.
Wenn Sie in die Suchmaske einen Suchbegriff eingeben und es zulassen, dass auch in den hinterlegten Volltexten der mit OCR versehenen Texte gesucht wird, sagen wir das Suchwort „vacances“, empfiehlt Ihnen Gallica gleich Literatur zu „Été“. Als hätte es die Suchmaschine geahnt. Im linken Menü können Sie zahlreiche Filter aktivieren, um die Treffermenge einzugrenzen. Sollten Sie länger an diesem Thema interessiert sein, abonnieren Sie doch einen RSS-Feed, der Ihnen automatisch neu eingespielte Treffer mit diesem Suchbegriff anzeigt. Sie können sich auch kostenlos einen personalisierten Account zulegen und Ihre Suchanfragen und Treffer abspeichern.
Kommen wir zurück zur Treffermenge: Ein kleines „T“ in einem spitzen Kästchen weist darauf hin, dass ein Werk mit Volltext verfügbar ist, den man durch einen entsprechenden Klick bei „Affichage“ auch einblenden kann. Außerdem können Sie das Werk als einzelne Seiten, Doppelseiten, als Mosaik aller Seiten oder als Version zum vertikalen Scrollen darstellen. Manche Werke sind auch als E-Book im Format EPUB (z.B. die 150 wichtigsten Werke der französischen Literatur empfohlen vom Ministerium für die Schulen). Ein Lautsprechersymbol zeigt an, dass Sie es sich vorlesen lassen können (sehr amüsant bei nicht-französischsprachigen Texten). Öffnen Sie die Vollanzeige eines Treffers, können Sie alle Seiten, die Ihr Suchwort enthält, mithilfe der Lupe schnell ansteuern. Sie werden wie mit Textmarker gehighlightet. Sofern das Werk nicht mit Beschränkungen versehen ist, kann man für nicht-kommerzielle Zwecke kostenlos und unkompliziert einen Download erhalten. Es reicht ein Klick in der linken Menüleiste: man muss nur das Format auswählen, festlegen, ob man eine einzelne Seite oder das komplette Werk wünscht und abschließend die Nutzungsbestimmungen bestätigen. Ein Großteil der Menüs ist inzwischen auch in deutscher Sprache vorhanden.
Sollten Sie Ihre Fundstücke nicht am PC oder Laptop, sondern am Handy konsultieren wollen, empfiehlt sich der Download der Apps für iOS oder Android – also dann ab mit Ihnen ins Grüne! Oder vielleicht Zelten in Brandenburg? In diesem Fall hätten wir für große und kleine Kinder noch etwas zum meditativen Ausmalen parat – voilà! Restez en bonne santé.
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