Druck-Alphabete für die Alphabetisierung – historische Schriftproben in der museumspädagogischen Praxis
Ein Gastbeitrag von Katharina Walter (Humboldt-Universität zu Berlin), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats unseres gemeinsamen digiS-Digitalisierungsvorhabens Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access mit Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, über ihr zusammen mit Ulrike Koloska (Werkstatt Neue Drucke/Stiftung Reinbeckhallen) konzipiertes Jugendbildungsprojekt Antiqua denken – Fraktur reden – Grotesk handeln: Schriftbilder enträtseln und gestalten.
Sich im Schreiben selbstbewusst und individuell auszudrücken, ist für die meisten Kinder und Jugendlichen aus einem bildungsfernen Umfeld nicht selbstverständlich. Um ihnen einen neuen Zugang zu Schrift jenseits von schulischen Leistungskriterien zu eröffnen, haben Stiftung Reinbeckhallen – Sammlung für Gegenwartskunst, Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Jugendkunstschule Treptow-Köpenick, Schule an der Alten Feuerwache und Integrationsstelle für Migranten ein gemeinsames Projekt konzipiert. Dieses zwölfmonatige Vorhaben im Förderprogramm Museum macht stark von Bundesministerium für Bildung und Forschung und Deutschem Museumsbund setzt an den alltäglichen Schreib- und Lesegewohnheiten der Heranwachsenden an, die analog wie digital wesentlich von typografischen Schriftbildern bestimmt sind. Unter dem programmatischen Motto Antiqua denken – Fraktur reden – Grotesk handeln: Schriftbilder enträtseln und gestalten lernen die Kinder und Jugendlichen im Rahmen mehrerer Ferienakademien Typografie als ein vielfältiges Kulturerbe kennen, als einen reichen Fundus an Zeichen, Formen und Praktiken, den sie für sich entdecken und für die eigene Schreibpraxis gestalterisch nutzen können.
Das Kooperationsprojekt folgt dabei der Überzeugung, dass Kenntnisse über die Geschichte und Praxis der Typografie grundlegend sind für eine reflektierte, kreative und damit selbstbewusste Schreib- und Lesekompetenz im digitalen Schrift-Zeitalter. Selbstredend wird damit eine gezielte Ansprache und Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit geringen Deutschkenntnissen verbunden.
Als Arbeitsgrundlage dienen Berliner Schriftproben aus der Zeit nach 1900, wie sie gegenwärtig von Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation, Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin und Staatsbibliothek zu Berlin mit Unterstützung von digiS als Beitrag zur Sicherung des typografischen Kulturerbes der Hauptstadt digitalisiert werden. In diesen Musterkatalogen zur Bewerbung der Erzeugnisse der betreffenden Schriftgießerei wurden Wortbeispiele sowie zeittypische Anwendungen in Büchern, Presse, Reklame und Privatkorrespondenz präsentiert, in denen die jeweiligen Schriftbilder mit bestimmten Themen, Ereignissen, Orten, Stimmungen und Werten semantisch verknüpft wurden. Die Teilnehmenden an den geplanten Veranstaltungen befassen sich so einerseits mit den Formen und Konventionen einer vergangenen analogen Kommunikationskultur. Andererseits lernen sie anhand der historischen Schriftproben, die kulturstiftenden Funktions- und Wirkungsweisen von Typografie zu verstehen, und erfahren, wie diese Emotionen und Assoziationen beim Lesen suggestiv erzeugen, das Verstehen von Inhalten steuern sowie Haltungen und soziale Handlungsmuster kennzeichnen kann. Darauf aufbauend gestalten die Heranwachsenden in der Werkstatt Neue Drucke, unter Leitung von Ulrike Koloska, eigene Schriftproben, in denen sie ihre aktuelle, von der Pandemie geprägte Lebenswelt, ihre Gefühle und Wünsche für die Zukunft in Wort und Schriftbild ausdrücken.
Insgesamt will das Projekt beispielhaft aufzeigen, wie schrift- und druckhistorische Sammlungen gemeinsam mit lokalen Bildungs- und Sozialpartnereinrichtungen eine dauerhafte und lebendige Bindung zu Kindern und Jugendlichen aufbauen können, indem sie ihnen das Schreiben als eine uralte, dem Menschen dienende Kulturtechnik näherbringen, die individuelle und identitätsstiftende Ausdrucksmöglichkeiten unabhängig von hohen Bildungsvoraussetzungen eröffnet.
Für die nächste Veranstaltung Worte von morgen – Schrift von gestern? Eine Entdeckungsreise in die Geschichte der Druckschrift sind noch Plätze frei. Das Programm für die kommenden Winter-, Oster- und Sommerferien wird frühzeitig auf den Webseiten von Stiftung Reinbeckhallen und Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin angekündigt – es soll ja schließlich kein Zeitdruck entstehen.
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