Die ungeheu(e)ren Dimensionen der Meere
Ein Beitrag aus unserer Reihe Meere und Ozeane zum Wissenschaftsjahr 2016*2017
Ausgewählte (See-)Meilensteine der kartographischen Ozeandarstellung
Wie man heute weiß, wird die Erdoberfläche zu ca. 71 % von Ozeanen bedeckt. Deren maximale Tiefe beträgt ca. 11.000 Meter, ihre durchschnittliche etwa 3.800 Meter.
Trotz der Unkenntnis derartiger Zahlen, oder womöglich gerade deswegen, war der Mensch immer schon fasziniert von den Dimensionen des Weltmeers, auch wenn die schier unendliche Weite der Wasserflächen und die damit verbundenen enormen Reisedistanzen ihn vor große nautische und mithin kartographische Herausforderungen stellten. Und galt der Ozean in frühen Vorstellungen der Griechen vom Abyssos gar als bodenlos, blieben noch bis in die Neuzeit fundierte Kenntnisse über die Meerestiefe verborgen. Dennoch war auch sie mindestens seit dem Mittelalter immer auch Gegenstand der Seekartographie, und sei es nur indirekt in Form verzeichneter Untiefen oder symbolhaft durch die Abbildung sowohl realer Seelebewesen als auch schrecklicher Ungeheuer, von denen Seefahrer berichteten.
Die berühmte Carta marina des Olaus Magnus ist dabei, wie Chet van Duzer in seinem 2014 erschienenen Buch Sea monsters on medieval and Renaissance maps über die jahrhundertelange Verwendung dieser Darstellungsform der Tiefe ausführt, nicht deren einziger Beleg. Kartographen konnten auf diese Weise einerseits überlieferte Gefahren der unbekannten Tiefsee darstellen und andererseits ganz pragmatisch die in den Karten aufgrund neuer Entdeckungen immer größer werdenden Meeresflächen redaktionell befüllen.
Erst die enormen technischen Errungenschaften der Neuzeit, vornehmlich auf den Gebieten der Nautik, Kartographie und Ozeanographie (hier v.a. der Bathymetrie mittels Echolot) führte die Wissenschaft von der antiken, eindimensionalen Seeroutenbeschreibung über die flächenhafte, teilweise immer noch auf Erkenntnissen der Antike fußende, mittelalterliche Darstellung zum neuzeitlichen, hoch aufgelösten 3D-Modell des Meeresbodenreliefs. Die ungeheuren Meeresdimensionen haben im Laufe dieser Entwicklung trotz der zwischenzeitlichen Entdeckung von Riesenkalmaren längst ihren Schrecken verloren. Seeungeheuer oder Monsterfische durchstreifen allenfalls die virtuelle Realität animierter Filme und Video-Spiele.
Kosmographie. Christliches Weltbild.
In den Faksimiles und der Literatur zur Geschichte der Seekartographie, deren bedeutendste Werke im Kartenlesesaal Unter den Linden aufgestellt sind, werden die ersten belegten / überlieferten Manuskripte, die die Weltmeere nicht nur in Textform kosmographisch beschreiben, sondern auch tatsächlich mehr oder weniger kartographisch abbilden, der Klosterkartographie des Mittelalters zugeschrieben, weswegen sie auch als Mönchskarten bezeichnet werden.
Diese waren häufig als kleine, kreisrunde Textgrafiken, sog. Radkarten, in Kodizes des 8. bis 11. Jahrhunderts enthalten und bildeten in stark schematisierter Weise das christliche Weltbild ab. Zumeist geostet, und gegen Ende dieser Zeitspanne fast immer mit Jerusalem bzw. dem Heiligen Land im Zentrum, teilt auf ihnen das Meer auf T-förmige Weise die drei bekannten Kontinente Asien (oben, häufig mit „Paradies“), Europa (links) und Afrika (auch „Lybia“, rechts) und umrahmt diese zudem als zusammenhängendes Weltmeer mit einem O-förmigen Ring. Daher verwenden Kartographen heutzutage auch häufig den Begriff TO-Karte.
Inhaltlich basieren nahezu alle genannten, zu den mappae mundi zählenden Kartentypen auf den geographischen Beschreibungen der Etymologiae des Isidor von Sevilla, der wiederum das kosmographische Wissen der Antike zusammentrug.
Als einer der ersten von den bis in die Renaissance aktiven Rezeptionisten setzte der Benediktinermönch Beatus von Liébana in seinem 776-786 verfassten Kommentar zur Apokalypse des Johannes die Weltsicht Isidors auch kartographisch um und legte mit dieser in der Folge oftmals von Kopisten nachgezeichneten und teilweise auch ergänzten Weltkarte den Grundstein für die nach ihm benannten Beatuskarten.
Diese zeichnen sich bereits durch wesentlich reichhaltigere geographische Details, v.a. hinsichtlich der Küstenformen und der Lage der Kontinente zueinander aus. Zudem ist immer auch eine im Süden gelegene vierte Weltgegend („orbis quarta pars“) eingezeichnet.
Der die Kontinente umrahmende ozeanische Ring sowie das gesamte Kartenformat weisen dadurch nun eine meist quer-ovale oder rechteckige Form auf.
Navigation. Entdeckung.
Einen Quantensprung bedeutete für die Seekartographie das plötzliche und von der Wissenschaft nie geklärte Aufkommen der Portolankarten im Mittel- und Schwarzmeerraum. Vermutlich gehen sie auf die Periploi der antiken Nautik zurück, die neben Seerouten vor allem Küstenlinien beschrieben sowie diverse Landmarken mit den sie trennenden Entfernungen auflisteten.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Portolankarten im Vergleich zu den mappae mundi nur noch Teilausschnitte der Erde abbildeten und ihr somit deutlich größerer Maßstab eine detailgetreuere Geographie überhaupt erst zuließ, erreichten sie bereits eine auch aus moderner Sicht noch äußerst beachtliche Lagerichtigkeit.
Mittels des markanten Liniennetzes und des Kompasses ließ sich fortan auch küstenfern der Schiffskurs so exakt wie nie zuvor bestimmen. Die auch Rumbenlinien genannten Netzgeraden verlaufen immer strahlenförmig vom Zentrum der Karte sowie von meist 16 gleichmäßig auf einer Kreislinie verteilten Punkten („Windrosen“), weswegen diese Karten auch Windstrahlen- oder Rumbenkarte genannt werden. Dabei sind die Linien der jeweils vier Haupt- und Zwischenhimmelsrichtungen stets schwarz, die der Halb-Winde grün, die der Viertel-Winde rot gefärbt. Auch die Hafenorte wurden ihrer damaligen Bedeutung entsprechend in verschiedenen Farben dargestellt.
Die größtenteils auf Pergament gezeichneten und graphisch nicht selten prunkvoll ausgestatteten Portolankarten ergänzten oft die textlichen Routen- und Küstenbeschreibungen der sog. Portolane, mit denen sich die bedeutenden Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts auf ihre Entdeckungsfahrten begaben. Durch die Erkenntnisse dieser Reisen und dank der stetigen inhaltlichen Ergänzung resp. kartographischen Fortführung der Portolankarten durch die Seefahrer verdichtete sich das geographische Weltbild vor allem hinsichtlich der kontinentalen Küstenverläufe sowie der globalen Land-Meerverteilung. Für die beginnende europäische Expansion war dieser Kartentyp fortan sehr bedeutend, so dass er stetig steigende Verwendung sowie immer größere Verbreitung fand und bereits erste Portolankartenserien entstanden.
Je nach Format sind Portolankarten sowohl als Einzelblätter als auch als Atlanten erhalten.Als prominente Beispiele der Staatsbibliothek zu Berlin seien aus der Kartenabteilung die Karte von Vesconte Maggiolo aus dem Jahre 1541 und aus der Handschriftenabteilung der nach 1540 erschienene Atlas von Battista Agnese genannt.
In diesem Exemplar (Agnese, Battista: Portulan-Atlas : Ms. Ham. 529, [nach 1540]) ist zudem eine Skandinavienkarte eingebunden, die noch einmal belegt, dass sich auch nach 1540 noch vereinzelt fantasievolle Seelebewesen in den Wasserflächen des Kartenbilds von Portolankarten tummeln. Ein weiterer Agnese-Atlas befindet sich in der Kartenabteilung (Sign. 2° Kart B 118).
Projektion. Exakte Wissenschaft.
Als größter Meilenstein der frühneuzeitlichen Kartographie, durch den sie fortan zu den exakten mathematischen Wissenschaften gerechnet wurde, gilt Gerhard Mercators 1569 erschienene Weltkarte Nova et aucta orbis terrae descriptio ad usum navigantium.
Den nachhaltigen Erfolg seiner Karte verdankte Mercator vornehmlich der Tatsache, dass durch die Winkeltreue ihrer Projektion fortan die Kurslinie zwischen zwei Punkten selbst über große Distanzen als Gerade gezeichnet werden konnte, da sie die Meridiane unter immer gleichem Winkel schneidet, was die Navigation ungemein vereinfachte. Auch alle heutigen Seekarten verwenden daher noch immer, wenn nicht den Mercator-, so doch zumindest einen winkeltreuen Kartenentwurf.
Aber nicht nur die Seekartographie, sondern auch die Abbildung der festen Erdoberfläche wurde ab dem 19. Jahrhundert von Mercators Projektion geprägt, obwohl diese weder längen- noch flächentreu erfolgt.
Der vermutlich größte und eigentlich unübersehbare Nachteil derartiger Kartenentwürfe aber, nämlich die extreme Streckung der Meridiane in den polaren Breiten (die Pole selbst liegen im Unendlichen) wird dabei auch heute noch oft vernachlässigt. Denn sowohl für die Weltbevölkerung als auch die Seeschifffahrt stellen vornehmlich jeweils die mittleren oder niederen Breiten den zentralen und somit flächenhaft nur gering verzerrten Lebens- bzw. Aktionsraum dar.
Kaum einem Betrachter fällt daher auf, dass Mercator-Karten die Erde mehr oder weniger rechteckig und die polaren Regionen, mithin bspw. auch den arktischen Ozean, nur unvollständig abbilden. Stattdessen endet das Kartenbild auf der Nordhalbkugel zumeist bei 80° N und auf der Südhalbkugel, wo die bewohnten Landmassen generell nicht so weit polwärts reichen, auch schon mal bei 75° S.
Als populärstes Beispiel eines aus der Mercator-Projektion resultierenden Größenproblems, wie es u.a. Tobias Dorfer im Teilchen-Blog von Zeit online veranschaulicht, sei Grönland genannt, das nahezu so groß wie Afrika erscheint, dessen Fläche jedoch 14 mal größer als die Grönlands ist.
Bathymetrie. Ozeanographie.
Im Fokus der neuzeitlichen Darstellung der Meere steht eindeutig die dritte Dimension und zwar in zweierlei Hinsicht. Denn neben der entsprechenden Weiterentwicklung von Seekarten für die Schifffahrt gewinnt spätestens mit der Challenger-Expedition (1872-1876) die moderne Meereskunde, sowohl aus Sicht der Meeresbiologie als auch der physikalischen Ozeanographie rasant an Bedeutung. Deren Erkenntnisse über hydrochemische, hydrophysikalische sowie meeresbiologische Parameter des ozeanischen Wasserkörpers per se schlagen sich nun erstmalig auch in thematischen Karten bspw. zur Salinität, den Meeresströmungen oder der Verbreitung von Arten u.v.m. nieder.
Die klassischen Seekarten wurden seit Mercators Wirken, nicht zuletzt befeuert von den machtpolitischen Bedürfnissen bedeutender Seefahrtnationen, deutlich großmaßstäbiger und detaillierter und in der Folge verstärkt als amtliche Kartenserien nationaler hydrographischer Institutionen herausgegeben, so bspw. seit 1850 vom Reichs-Marine-Amt die Deutsche Admiralitätskarte (seit 1949 vom heutigen Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie als Deutsche Seekarte fortgesetzt). Deren Kartenbilder vermitteln im Laufe der letzten 200 Jahre immer präziser und dichter werdende Informationen über die Meerestopographie in Form von Tiefenschichten, -linien und/oder –punkten. Auch offizielle Seerouten sowie international standardisierte nautische Seezeichen bestimmen fortan das Kartenbild mit.
Durch den wachsenden Druck, in immer engeren Zyklen aktuelle Fortschreibungen herausgeben zu müssen und angesichts der Möglichkeiten digitaler Kartographie sind zahlreiche gedruckte Seekartenserien zugunsten amtlicher elektronischer Seekarten eingestellt worden. Gespannt darf man sein, ob und wie im Zeitalter sozialer Medien analog zum erfolgreichen Crowdsourcing-Projekt OpenStreetMap auch dessen seekartographisches Pendant OpenSeaMap zur Entwicklung freier Seekarten beitragen können wird.
Beide Disziplinen, Seekartographie und Meereskunde, eint das Interesse am Meeresboden. Aufgrund des flächenhaften Einsatzes des Echolots ab den 1920er Jahren steht heute für sämtliche Meeresböden der Erde bathymetrisches Kartenmaterial in Fom von Karten, dreidimensionalen Gelände- bzw. Reliefmodellen und Globen quasi lückenlos zur Verfügung. In seiner Gesamtheit stellt dies den bislang letzten und modernsten Meilenstein der Meereskartographie dar.
Auch wenn somit die Meere hinsichtlich aller Dimensionen erkundet, vermessen und visualisiert werden konnten, steht die Meeresforschung inhaltlich oft erst am Beginn vieler neuer spannender Forschungsfelder. Mitunter haben diese auch einen kartographischen Bezug, wie der eine oder andere Blogbeitrag zum Wissenschaftsjahr zeigt.
Dimensionen und deren Eindrücke auf den Menschen sind immer auch abhängig von Perspektive und Maßstab. So muss man sich z.B. im Falle von (Ozean-)Reliefmodellen stets der oft hundertfachen Überhöhung resp. „Übertiefung“ und somit deren relativer Größe gewahr sein.
Aber aus der Tatsache heraus, dass selbst die eingangs erwähnte tiefste Stelle des Meeres lediglich ca. 0,17 % des Erdradius ausmacht, den Ozean als „Feuchtefilm der Erde“ abzuqualifizieren, wäre einfach nur eines: Ungeheuerlich!
Vorschau: Reif für die Insel? Da können wir helfen! Kommen Sie mit zum gedanklichen Insel-Hopping in unserem nächsten Beitrag rund um Inseln, Inselstädte und Inselbücher!
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