Digitale Lektüretipps 47: Die „Kunst des Lesens“ im Mittelalter

Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB

Ein neues Projekt der Europäischen Union unter Beteiligung der Staatsbibliothek zu Berlin

Von Prof. Dr. Eef Overgaauw, Leiter der Handschriftenabteilung

 

Andachtsbuch : Ms. germ. oct. 2 , [15. Jh.] SBB-PK http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015AE400000021

Abb. 1: Andachtsbuch : Ms. germ. oct. 2 , [15. Jh.] SBB-PK http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015AE400000021

Bis tief ins 16. Jahrhundert, auch nach der Einführung des Buchdrucks, wurden in allen Teilen Europas unzählige Bücher geschrieben, nicht nur in Klöstern, aber auch an Höfen, an Universitäten und in den Werkstätten von Berufsschreibern. Jede Handschrift ist ein Unikat, aber die abertausenden Handschriften, die bis heute erhalten geblieben sind, lassen sich anhand ihrer Inhalte in Gattungen aufteilen, etwa Bibelhandschriften, Rechtshandschriften, liturgische Handschriften, Klassikerhandschriften, Gebetbücher, Chroniken, usw. Jede Handschrift wurde zunächst von einer bestimmten Person gelesen, in der Regel von der Person, die die Handschrift in Auftrag gegeben hatte. Darüber hinaus richtete eine Handschrift sich an ein weiteres, größeres oder kleineres Publikum. Dieses Publikum konnte eine Klostergemeinschaft sein, aber auch eine adelige Familie oder Studenten an einer Universität. Lesen war eine „Kunst“ im Mittelalter, die in der Schule oder zu Hause gelernt wurde. Das Lesen von Büchern war damals, anders als heute, mühevoll. Bücher waren kostbar, große Büchersammlungen gab es außerhalb der Klöster nur wenige. Dennoch hatten besonders im Spätmittelalter viele Menschen Zugang zu Handschriften.

Trotz erheblicher regionaler Unterschiede in Schriften und Sprachen war die Buchkultur des Mittelalters in den unterschiedlichen Ländern Europas in wesentlichen Teilen einheitlich. Eine lateinische Handschrift konnte überall in Europa gelesen werden, unabhängig vom Herstellungsort. Innerhalb der monastischen, intellektuellen und adeligen Netzwerken wurden unzählige Handschriften verschenkt, verkauft und vererbt – über die damaligen Landesgrenzen hinweg. Dies führte dazu, dass die Werke erfolgreicher Autoren in allen Teilen Europas gelesen werden konnten. Nur die erst im Spätmittelalter aufkommenden volkssprachliche Literaturen kannten eine regional beschränkte Verbreitung. Dieser Befund macht es möglich, die heute noch vorhandenen mittelalterlichen Handschriften als ein europäisches Erbe zu betrachten: neben überregionalen Gemeinsamkeiten gab es regionale Eigenheiten.

Andachtsbuch : Ms. germ. oct. 2 , [15. Jh.] SBB-PK http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015AE400000005

Abb. 2: Andachtsbuch : Ms. germ. oct. 2 , [15. Jh.] SBB-PK http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015AE400000005

Nun können mittelalterliche Handschriften aus unterschiedlichen überregionalen Perspektiven betrachtet werden, etwa mit Blick auf ihre Schrift, Inhalt, Ausstattung, Einband oder Vorbesitzer. Es ist auch möglich, den Leser oder die Leserin, für wen eine Handschrift geschrieben wurde, ins Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. In der Regel ist diese/r Leser/in nicht namentlich bekannt, aber anhand der Merkmale der Handschrift und der Benutzerspuren ist es häufig möglich, ein ziemlich genaues Bild von dieser Person und ihrem Umgang mit einer Handschrift zu ermitteln. Gebetbücher in der Volkssprache richten sich an fromme Frauen, für die das häufige Lesen von Gebeten zur Glaubenspraxis gehörte. Die Kostbarkeit der Ausstattung eines solchen Gebetbuches entspricht dem gesellschaftlichen Stand der Auftraggeberin. Annotierte Werke des Aristoteles richten sich an anonyme Studenten, die diese Werke für ihr universitäres Studium brauchten. Spätmittelalterliche Städtechroniken wurden für ein bürgerliches Publikum geschrieben, das sich für die Geschichte der eigenen Stadt interessierte.

Die Staatsbibliothek zu Berlin beteiligt sich mit sechs weiteren Bibliotheken in ebenso vielen Ländern Europas an einem von der Europäischen Union gefördertes Projekt, das die „Kunst des Lesens“ im Mittelalter anhand von digitalisierten Handschriften in den sieben Sammlungen für ein breiteres Publikum anschaulich machen wird. Die bereits vorhandenen Katalogbeschreibungen werden mit Erläuterungen angereichert, die darstellen, wie, von wem und mit welchem Ziel diese Handschriften im Mittelalter gelesen wurden. Im Ergebnis entsteht eine digitale Sammlung, die europaweite Gemeinsamkeiten und regionale Unterschiede in der „Kunst des Lesens“ darstellt. Diese Sammlung wird im Portal „Europeana“ bereitgestellt. Die am Projekt beteiligten Bibliotheken sind, neben der SBB, die Nationalbibliotheken Frankreichs, Sloweniens und der Tschechischen Republik, die Stadtbibliothek Brügge, das Hunt Museum in Limerick und die Universitätsbibliothek Leiden.

Aristoteles: Opera varia : Ms. lat. fol. 286 , SBB-PK [14. Jh. erstes Drittel] http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00019FB300000117

Abb. 3: Aristoteles: Opera varia : Ms. lat. fol. 286 , 14. Jh. erstes Drittel] SBB-PK  http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00019FB300000117

Zwei Beispiele aus der Staatsbibliothek zu Berlin belegen, wie bei der Gestaltung von Handschriften Rücksicht auf die intendierte Leserschaft genommen wurde. Das erste Bespiel ist ein schönes, übersichtliches und gut leserliches, mit reichem Fleuronnée illuminiertes niederländisches Gebetbuch des späten 14. Jahrhunderts (Abb. 1: Ms. germ. oct. 2, Bl. 9r). Auf der Vorderseite des ersten Blattes lesen wir ein Besitzvermerk einer Nonne des frühen 16. Jahrhunderts: (Abb. 2: Ms. germ. oct. 2, Bl. 1r). Hier lesen wir: Dit boek hoort toe Ghiert Hermans dochter van sinte Agnieten klooster tot Amstelredam („Dieses Buch gehört Ghiert Hermanstochter im St. Agnetenkloster zu Amsterdam“). Mehr als hundert Jahre nachdem diese Handschrift fertiggestellt wurde, war sie im Besitz einer Nonne in einem Amsterdamer Frauenkloster. Wir dürfen davon ausgehen, dass Schwester Ghiert Hermanstochter das Gebetbuch auch gelesen hat.

Die Hauptwerke des Aristoteles gehörten seit dem frühen 13. Jahrhundert zum Curriculum des Studiums der Theologie und Philosophie an den Universitäten in Frankreich und Italien. Bis zur Erfindung des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrhunderts schrieben Berufsschreiber gegen Bezahlung zahlreiche Handschriften mit Werken des Aristoteles, überwiegend im Auftrag von wohlhabenden Studenten und Professoren. (Abb. 3: Ms. lat. fol. 286, Bl. 57r). Diese Handschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert enthält „De Physica“ („Über die Physik“). Auf der ersten Seite beginnt der eigentliche, mit schwarzer Tinte geschriebene Haupttext mit einer rot/grün geteilten Initiale. Die Ränder wurden mit Absicht sehr breit gestaltet, damit der Leser (Student oder Professor) seine Erläuterungen zum Text dort eintragen konnte – was in dieser Handschrift auch passiert ist. In einer winzig kleinen Schrift hat ein zeitgenössischer Leser seine Anmerkungen und Erläuterungen nicht nur an den Rändern, sondern auch zwischen den Zeilen geschrieben.
Die „Kunst des Lesens“ brauchen wir, damit wir diese Nachträge zur Kenntnis nehmen können.

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