Germanische Altertumskunde in der Staatsbibliothek

Seit kurzem hat die Staatsbibliothek die vom renommierten Wissenschaftsverlag De Gruyter angebotene Datenbank Germanische Altertumskunde online (GAO) lizenziert. Was sagt uns die Germanische Altertumskunde? Das Wissenschaftsfach geht auf die Gebrüder Grimm und ihr Bemühen um die Suche nach unseren Wurzeln zurück. Sie ist somit letztlich ein Kind der Romantik mit ihrer Idee des immerwährenden Volksgeistes.

Wegen des Mangels an schriftlichen Quellen hatte das Fach von Anfang an Akzeptanzprobleme bei den älteren Wissenschaftsdisziplinen. So musste es sich im Vergleich zu der Klassischen Altertumswissenschaft mit dem zwar volkstümlicheren, aber doch auch leicht abwertenden Epitheton –kunde begnügen. Bezeichnenderweise war es mit dem Heidelberger Anglisten Johannes Hoops (1865-1949) kein ausgewiesener Fachmann, der 1911 bis 1919 als Herausgeber der ersten, vierbändigen Auflage des Reallexikons der germanischen Altertumskunde fungierte. Als Verleger stand bereits damals De Gruyter zur Verfügung. Erneut zeigt sich im Vergleich zu Paulys und Wissowas Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft im Werktitel, dass man wissenschaftlich gesehen nur in der zweiten Reihe stand.

Der Sündenfall kam dann im „Dritten Reich“, als sich nicht nur führende Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg mit großer Hingabe für das Fach interessierten, sondern auch etliche Wissenschaftler – nicht nur deutscher Staatsangehörigkeit – sich dem Regime aus Überzeugung andienten und beispielsweise in der ideologisch überfrachteten Forschungsgemeinschaft deutsches Ahnenerbe mitwirkten. Das Ahnenerbe war bekanntlich eine Einrichtung der SS. Das zugrundeliegende biologistische Weltbild verklärte die Germanin und den Germanen als die in physischer und psychischer Hinsicht idealen Menschen. Mit solchen Anschauungen hatte sich die einschlägige Forschung diskreditiert. Als Konsequenz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das Thema Germanen in der Fachwelt nur noch mit Zurückhaltung behandelt.

Einen Neuanfang bedeutete die 1961 unter dem Titel Stammesbildung und Verfassung veröffentlichte Habilitationsschrift des Göttinger Historikers Reinhard Wenskus (1916-2002), vom Inhalt her ein Buch über die Germanen. Er kam zu der Erkenntnis, dass ethnische Formationen oftmals recht flüchtige Gebilde seien, insbesondere wenn sie ihrer Eliten – Wenskus nannte sie Traditionskerne – verlustig gingen. Seine bahnbrechenden Erkenntnisse wurden insbesondere von den Wiener Historikern Herwig Wolfram (geb. 1934) und seinem Schüler Walter Pohl (geb. 1953) intensiviert, teilweise auch modifiziert. International wurde seither ausgiebig über Ethnogenese geforscht und dabei der Germanenbegriff wie kaum ein anderer ethnographischer Terminus seziert. Die orale Kultur der Germanen bringt es mit sich, dass es nur wenige schriftliche Selbstaussagen gibt. Insbesondere fehlen explizite darüber, dass die Germanen ein Gemeinschaftsbewusstsein besessen hätten – am ehesten finden sich solche Äußerungen noch in der Karolingerzeit. Wohl bekannt sind hingegen die zahlreichen Fehden der Volksstämme untereinander. Selbstverständlich lassen sich Zustände aus dem 12. Jahrhundert auf Island nur sehr bedingt über ein Jahrtausend zurückprojizieren. Die Christianisierung bedeutete für die germanischen Völker einen massiven kulturellen Umbruch, viele gaben auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reiches ihre angestammte Sprache auf. Was frühere Wissenschaftler als spezifisch germanische Ausformungen erarbeitet hatten – z.B. hinsichtlich der Sippe und Treue, des Ehrbegriffs, der Gefolgschaft und des Sakralkönigtums –, hielt der modernen Detailforschung nicht stand. Auch lässt es sich nicht nachweisen, dass das Ethnonym Germanen von den so Apostrophierten in einer umfassenden Weise zur Selbstbezeichnung benutzt worden wäre. Die Kritik ging aber noch weiter. Es wurde bezweifelt, dass es die Germanen überhaupt gegeben habe, oder ob sie nicht etwa eine Erfindung der Römer seien. Damit kam die Forderung auf, den Germanenbegriff als Forschungsterminus weitgehend aufzugeben.

Dies ist für mich allerdings deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Ob der Germanenbegriff wirklich quellengerecht und -konform ist, ist ein Stück weit unerheblich. Wir sprechen von der Zeit der Mykenischen Kultur bis in die Jetztzeit von Griechen, obwohl diese sich selber nie so genannt haben. Dabei machen wir keinen Unterschied, ob sie im Mutterland wohnten oder sich von dort weithin verbreiteten. Wie der Germanenbegriff widerfuhr gerade auch diesem Terminus eine ideologische Überhöhung, und ihr Gemeinschaftsbewusstsein hinderte die Hellenen keineswegs daran, sich z.B. im Peloponnesischen Krieg nahezu 30 Jahre lang massiv die Köpfe gegenseitig einzuschlagen.

Für die Existenz der Germanen lassen sich unter anderem die folgenden Punkte ins Feld führen: Die germanische Sprache muss sich schon sehr früh, jedenfalls Jahrhunderte vor der Zeitwende aus dem Indogermanischen weiterentwickelt haben. Dies belegen die zahlreichen archaischen Lehnwörter im Ostseefinnischen aus sprachchronologischer Sicht. Die Kontakte untereinander waren so eng, dass noch in der Völkerwanderungszeit – fast ein Jahrtausend später – die Angehörigen der verschiedenen germanischen Völkerschaften sich gut miteinander verständigen konnten. Möglicherweise ging das auch noch in der Zeit Karls des Großen. In Tacitus Schrift Germania findet sich eine einheimische Ethnogonie der germanischen Stämme. Sie müssen sich also Gedanken über ihre Zusammengehörigkeit gemacht haben. Immer wieder findet sich in den gentilen Herkunftssagen – neben einigen anderen Gegenden – der Ausgangspunkt Skandinavien für die topisch am Anfang der Stammesüberlieferungen stehende Wanderung. Auch wenn sich vieles als irrig herausgestellt hat, bleiben immer noch etliche kulturelle Gemeinsamkeiten übrig, die viele germanische Stämme verbinden, wie z.B. der Tierstil. Ihre Götterwelt vor der Christianisierung passt zueinander, und sie besaßen einen gemeinsamen Horizont an Heldensagen, in denen erstaunlicherweise die Römer keine Rolle spielten. Sie hielten eisern an ihren herkömmlichen Personennamen fest, auch wenn sie schon lange ihre angestammte Sprache aufgegeben hatten. Die Germanen benutzten mit den Runen eine eigene Schrift, und sie grenzten sich begrifflich von anderen ab, den Welschen (erst die Kelten, dann auch die Romanen) im Süden und Westen sowie den Wenden (erst später die Slawen) im Osten. En passant sei noch erwähnt, dass die Bibelexegeten ihnen eine Existenz zubilligten und sie zu den 72 Völkern rechneten, deren Sprache beim Turmbau zu Babel entstand. Eine Binsenweisheit schließlich ist, dass die Germanen sich im Lauf der Jahrhunderte verändert und weiterentwickelt haben müssen, weshalb sich beispielsweise Germanen der ausgehenden Römischen Republik und der Merowingerzeit nur bedingt gleichsetzen lassen. Es bleibt aber zu konstatieren, dass sich heute die Historiker, die Philologen und die Archäologen nicht auf einen umfassenden Germanenbegriff verständigen können.

Wieder war es der bereits erwähnte Reinhard Wenskus, der maßgeblich eine Neuauflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde betrieb. 1968 konnte der erste Faszikel erneut bei De Gruyter erschienen. Wegen der Dekomposition des herkömmlichen Germanenbildes war es diesmal erheblich schwieriger, den inhaltlichen Rahmen zu ziehen. Wenskus selber versuchte es auf den Nenner zu bringen, dass das Lexikon alles enthalten solle, was in der Forschungsgeschichte einmal als germanisch angesehen wurde oder in einem wesentlichen Verhältnis dazu stand. Außer den Kernfächern Archäologie, Geschichte und Philologie fanden viele andere Wissenschaftsdisziplinen Berücksichtigung, mit zunehmendem Maße auch die Wissenschaftsgeschichte. In seiner langen Entstehungszeit wurde das Lexikon selber ein Dokument für die Weiterentwicklung der Germanischen Altertumskunde. Während die ersten Bände mit erheblichem Abstand erschienen, erfolgte ab Band 8 im Jahr 1994 eine frappante Beschleunigung der Edition. Bis 2008 erschienen einschließlich der Register 29 weitere Bände, mitunter drei pro Jahr. Am Ende waren von 1443 Personen aus 37 Ländern auf 22.358 Seiten 5.124 Lexikonartikel verfasst. Die Edition wurde ab 1986 von Begleitbänden ergänzt, die einzelne Themen vertieft darstellen. Immer wieder setzen sie sich mit der Geschichte des Faches auseinander. Mittlerweile sind 110 Ergänzungsbände entstanden.

2010 entschloss sich der Verlag, das Grundwerk und die Ergänzungsbände, gewissermaßen als dritte, nunmehr elektronische Auflage des Reallexikons in eine Datenbank zu überführen. Diese trägt den Namen Germanische Altertumskunde online, und sie wird permanent erweitert. Neben den laufend erscheinenden weiteren Ergänzungsbänden werden auch einzelne Lexikonartikel aktualisiert, wobei die älteren Fassungen aus wissenschaftshistorischen Gründen greifbar bleiben. Außerdem erscheinen für bislang noch nicht erörterte Sachverhalte jedes Jahr annähernd ein Dutzend neuer Lemmata. Diese Stichwörter werden etwas versteckt im linken Rahmen der Datenbankoberfläche unter dem Einstiegsbutton „Update“ angeboten.

Fächerübergreifend enthalten ist der Zeitraum von ungefähr 50 vor Chr. bis ca. 850. Davor werden die Artikel im Wesentlichen von der Archäologie geprägt, danach tritt eine Reduktion auf den nordeuropäischen Raum ein. Neben der Wissenschaftsgeschichte steht die zur Zeit international intensiv beforschte Umformung der antiken Welt in das Frühmittelalter mit ihren Themen Migrationen, Identitäten und Religionen im Fokus der Datenbank. Die Germanen hatten daran ja keinen unwesentlichen Anteil.

Die Datenbankoberfläche bietet über verschiedene Suchfunktionen einen bequemen Zugang zu den Dokumenten, darunter die Möglichkeit der Kombination mit den Booleschen Operatoren. Die Suchergebnisse lassen sich chronologisch, geographisch und fachlich eingrenzen. Die Volltextsuche erlaubt die Informationsbeschaffung zu lexikalisch nicht erfassten Begriffen oder auch modernere Informationen bei in die Jahre gekommenen Artikeln.

Der Zugriff erfolgt für die Leserinnen und Leser in der Regel über den Stabikat. Die GAO werden außerdem beim im Aufbau begriffenen virtuellen Lesesaal der Staatsbibliothek berücksichtigt und haben deshalb im Katalog entsprechende Notationen erhalten (HA 6 Wa 750-ERF bzw. HB 6 Wa 120-ERF). Sie können somit auch über die Online-Lesesaalsystematik gefunden werden:

http://lesesaal.staatsbibliothek-berlin.de/

Diesen Zugang finden Sie im linken Rahmen des Stabikat unter dem Einstiegspunkt Lesesaalsystematik.

Abschließend ist zu betonen: Wer sich heute mit Mittel- und/oder Nordeuropa im Altertum und Frühmittelalter beschäftigt, wird um die GAO nicht herumkommen.

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