„Jeder Vogel gibt unzählige Rätsel auf.“

Die Heinroths und ihre Vogel-WG – 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung

Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einer Wohnung mit Dutzenden von Vögeln zusammen. Für Oskar und Magdalena Heinroth war das von 1904 bis 1932 Alltag. In ihrer Berliner Mietwohnung, ab 1913 in der Dienstwohnung im Berliner Aquarium, lebten sie Tür an Flügel mit ihren gefiederten Freunden. Die beiden zogen die Vögel vom Ei an auf und dokumentierten in den sogenannten Vogel-Tagebüchern akribisch jedes Detail ihrer Entwicklung, wie Gewichtszunahme, Gefiederzustand oder Verhalten.

Dabei ging es durchaus lebhaft zu: Schwarzspechte hackten Löcher in die Wände, während ein Waldkauz stündlich versuchte, den Kuckuck aus der Kuckucksuhr zu erwischen. Oskar und Magdalena wurden von den Vogelkindern als ihre Artgenossen wahrgenommen. Ein Haussperling attackierte daher aus Eifersucht Magdalena. Ein Fasan sah in Oskar einen Geschlechtspartner und balzte seine Hand an.

Die Tiere wurden in den verschiedenen Entwicklungsstadien regelmäßig fotografiert. Dafür nutzten die Heinroths die neueste Kameratechnik, eine Mentor Klappreflex 9×12 der Firma Goltz & Breutmann in Dresden. Viele Vögel ließen sich durch Kamerageräusche stören oder bewegten sich unablässig. Mit unendlicher Geduld und Einfühlungsvermögen gelang es den Heinroths trotzdem, die Tiere am Ende sogar entspannt aussehen zu lassen.

Junge Feldlerche

Die Anstrengung der jährlich wiederkehrenden Vogelaufzucht hinterließ auch ihre Spuren. Magdalena Heinroth nannte es ihr „sommerliches Trabrennen“: Nester mussten gesucht und die oft winzigen Nestlinge warmgehalten werden. Das ständige Füttern erforderte frühes Aufstehen und spätes Zubettgehen. Allein das Fotografieren der jungen Vögel dauerte oft Stunden. Abends wurden die Tagebücher geschrieben. Alles musste penibel sauber bleiben, um Krankheiten der empfindlichen Pfleglinge zu vermeiden. Auf dem Boden knieend scheuerte Magdalena täglich den Boden. Oskar Heinroth war als Direktor des größten Aquariums der Welt beruflich voll ausgelastet; seine Vogelstudien waren eigentlich sein privates Interesse. Ironischerweise entwickelte er eine heftige Allergie gegen Vogelfedern, sodass er nachts wegen der Atemnot Sauerstoff erhielt. Auf Reisen verschwand sein Asthma sofort.

Aber die Bilanz ihres Engagements ist beeindruckend: Rund 1000 Vogelindividuen aus mehr als 250 Arten zogen sie im Laufe der Jahre auf. Ihre Erkenntnisse trugen sie in dem vierbändigen Werk “Die Vögel Mitteleuropas” (1926-1931) zusammen, das sowohl in der Fachwelt als auch der Laienpresse begeistert aufgenommen wurde. Eine so vollständige Darstellung der Entwicklung aller europäischen Vogelarten in Wort und Bild war vollkommen neu. Mit dem Schwerpunkt auf Beschreibung und Vergleich des Verhaltens heranwachsender Vögel markiert es den Beginn der Verhaltensforschung in Deutschland.

Mit ihren Beobachtungen leisteten die Heinroths Pionierarbeit. Fragen nach dem artspezifischen Verhalten oder der Art und Weise der Kommunikation der Tiere waren in der Biologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch unbekannt, ganz anders als heute. So betraten die Heinroths Neuland, indem sie sich bei jeder Vogelart behutsam an die Bedürfnisse des Jungtiers annäherten. Ihre genaue Beobachtungsgabe erzeugte dabei viele neue Erkenntnisse. In der Folge wurde stärker zwischen angeborenen und erlernten Verhaltensweisen unterschieden. Zum Beispiel: Der Flussregenpfeifer trommelte im Sand eines Terrariums mit den Füßen, um Würmer an die Oberfläche zu treiben. Eine Mönchsgrasmücke sang ähnlich wie eine Nachtigall, da sie zusammen mit dieser aufgewachsen war.

Waldlaubsänger

Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz nannte Oskar Heinroth seinen wichtigsten Lehrer. Er beschrieb ihn als ersten Forscher „diesseits des Ozeans, der auf den Gedanken kam, Verhaltensweisen verschiedener Tierformen in jener Weise auf Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, auf Gemeinsames und Trennendes hin zu untersuchen, wie es der Phylogenetiker mit körperlichen Merkmalen seit jeher tut.“. Bereits 1906 erkannte Oskar Heinroth, dass Verhaltensweisen artspezifisch verschieden sind und genauso als Artkennzeichen dienen können wie beispielsweise Gefiedermerkmale. Er postulierte, dass man auf der Basis solcher Vergleiche Verwandtschaftsverhältnisse aufschlüsseln könne. Die vergleichenden Verhaltensstudien erhielten von ihm den Namen Ethologie.

Nach dem frühen Tod Magdalenas 1932 lernte er Katharina kennen, die er 1933 heiratete. Auch sie war Ornithologin und teilte seine Leidenschaft. Gemeinsam erforschten sie das Verhalten von Tauben, die in einem Taubenschlag auf dem Dach des Aquariums gehalten wurden. Im Verlauf des 2. Weltkrieges, auch aufgrund zunehmender Krankheit und Auszehrung von Oskar, übernahm Katharina immer mehr berufliche Aufgaben ihres Mannes. Zum Schluss war sie allein für den Zoo verantwortlich. Der Krieg traf die Arbeit der Heinroths hart: Das Aquarium wurde 1943 durch mehrere Bombentreffer zerstört, der Zoo schwer beschädigt und zahlreiche Tiere getötet. Oskar starb kurz nach Kriegsende am 31.Mai 1945.

Katharina übernahm nach dem Krieg die Leitung des Zoos und ging als erste und damals einzige Frau in dieser Funktion in die Geschichte ein. Sie leitete bis 1957 erfolgreich den Wiederaufbau, ließ neue Tierhäuser errichten und wurde zur prägenden Figur des Berliner Zoos. Der Direktor des Tierparks in Ost-Berlin, Heinrich Dathe nannte sie ehrfurchtsvoll „Katharina die Einzige“. Für ihre Leistungen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1957 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Der Nachlass wurde 1980 von Katharina Heinroth an die Staatsbibliothek übergeben. Die Ausstellung „Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung“ gibt anhand von Tagebüchern, Briefen und Fotos Einblicke in das tierisch-menschliche Zusammenleben und würdigt die wissenschaftlichen Leistungen der drei Heinroths.

Wir freuen uns auf Ihren Besuch im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden 8, vom 13. Juni bis zum 14. September 2025.*

Unsere virtuelle Ausstellung präsentieren wir Ihnen hier: Die Vogel-WG – SBB aktuell

Oskar und Magdalena Heinroth beim Morgenspaziergang mit ihren Kranichen

 


*Wer nicht so lange warten möchte, kann schon jetzt im Lesesaal ‚Vivarium‘ einen Blick in das Buch Die Vogel-WG, geschrieben von Karl Schulze-Hagen und Gabriele Kaiser, werfen.

Karl Schulze-Hagen, Gabriele Kaiser, Oskar und Magdalena Heinroth: Die Vogel-WG Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung. München: Knesebeck. ISBN: 978-3-95728-395-5 / Signatur: Hs LS PJ 712

 

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