Mit Maschinen spielen – Lust und Frust in Zeiten der Künstlichen Intelligenz
Ein Beitrag aus unserer Reihe Künstliche Intelligenz zum Wissenschaftsjahr 2019
Irgendwann wird man vielleicht feststellen, dass der 10. März 2016 einen historischen Wendepunkt in der Technologie-, wenn nicht gar in der Menschheitsgeschichte markiert.
An besagtem Donnerstag geschah im Four Seasons Hotel in Seoul etwas überaus Überraschendes, wenngleich nicht in den Augen aller Menschen, so doch wenigstens in denen der interessierten Öffentlichkeit. Es ereignete sich das zweite Match zwischen dem Südkoreaner Lee Sedol, einem, wenn nicht dem zu dieser Zeit besten Go-Spieler der Welt, und dem Computerprogramm AlphaGo, einem neuronalen Netzwerk, basierend auf maschinellen Lernmethoden und entwickelt von Googles Deepmind.
Das erste Match hatte Sedol bereits verloren. Die Zuversicht in die eigene Spielstärke – oder war es menschliche Überheblichkeit? – war gewichen. Doch die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt, hier vor allem die der versammelten Spielergemeinde.
Nach mehreren bemerkenswerten Spielzügen im zweiten Match vollzog AlphaGo im 37. Zug etwas, was nicht nur den vorherrschenden Spielkonventionen, sondern auch jeglichen statistischen Wahrscheinlichkeiten und dem Erfahrungswissen der AlphaGo-Entwickler entgegenstand. Die Maschine entwickelte ein Eigenleben, ein Eigendenken. Es war erst auf den zweiten Blick zu erkennen, dass die Maschine keinen (Rechen-)Fehler produzierte, zumal Go als komplexes Brettspiel mehr Züge ermöglicht, als jeder Superrechner klassischer Bauart heutzutage zu berechnen in der Lage ist.
Vielmehr überraschte AlphaGo das Publikum mit einer unerwarteten Spielintuition und -kreativität. Im Nachgang des Matchs resümierte der unterlegene Lee Sedol bewegt:
„Ich dachte AlphaGo würde auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basieren und dass es nur eine Maschine wäre […] Nach dem Zug änderte ich meine Meinung. Dieser Zug war kreativ und wunderschön.“ (zitiert nach: Macht Euch die Maschinen untertan)
Einer Maschine war es gelungen, eine Grundeigenschaft des Menschen zu erlangen. Im Auge des Betrachters entwickelte sie eine Kreativität, um Originalität und Schönheit hervorzubringen – eine Domäne, die nur uns Menschen beschieden zu sein schien.
Was dieses Ereignis in den Augen vieler Go-Spieler so bedeutsam macht, bleibt für Nicht-Go-Spieler, also für die überwältigende Mehrheit von uns, unverständlich, singulär und ohne Folgen. In Südkorea indes führte die krachende Niederlage eines Nationalhelden zu verstärkten Investitionsprogrammen in die nationale, industrielle KI-Forschung – das Match als Sputnik-Schock.
Dieses Spiel war lediglich eine Zwischenetappe im Wettbewerb Mensch gegen Maschine, in dem ein Muster zu erkennen ist: Mensch programmiert Maschine, Maschine lernt, Maschine gewinnt, Mensch sucht komplexere Spielherausforderung für neue Maschinen.
Dieses Muster lässt sich anhand einzelner Spiele historisch skizzieren:
Dame:
Der Informatiker Arthur Lee Samuel, einer der frühen KI- und Computerspiel-Pioniere, entwickelte um 1959 ein Programm, welches im Spiel gegen sich selbst Gewinnwahrscheinlichkeiten von Zügen berechnete und so alsbald ein mehr als ernst zu nehmender Gegner im Dame-Brettspiel wurde. Dies war die Geburtsstunde maschinellen Lernens. Die damaligen Rechnerkapazitäten begrenzten die Möglichkeiten eines Vorgehens nach der Brute-Force-Methode, der Suche nach der einen richtigen Lösung. Anstatt alle möglichen Züge durchzurechnen, wurde ein heuristisches Verfahren gewählt, um den Suchraum nach guten, da gewinnbringenden Zügen einzugrenzen. Ein Ansatz, der bis heute eine gewisse Gültigkeit besitzt.
Schach:
Das Königsspiel reizte schon früh ob seiner Komplexität mit ca. 1043 möglichen Spielstellungen. In den 1980er Jahren entstanden an der Carnegie Mellon University leistungsfähige Schachcomputer, von denen Deep Thought nennenswerte Spielerfolge erzielte, aber gegen die weltbesten Spieler wie Garri Kasparow schachmatt ging. Erst eine modifizierte Schachsoftware, kombiniert mit einer enormen Prozessorleistung, führte 1997 zum Sieg des IBM-Schachcomputers Deep Blue über den Russen. Fun Fact: Im Nachgang entwickelte sich zwischen den Beteiligten eine rege Diskussion über regelkonformes Verhalten und die definitorischen Grenzen maschinellen Lernens.
Go:
Dem oben beschriebenen Wettkampf Mensch gegen Maschine folgten weitere. Professionelle Spieler waren auf die Tribüne verbannt, die Maschinen machten das Spiel mittlerweile unter sich aus. Während bei AlphaGo noch Ansätze von Big Data – die Auswertung zahlreicher von Menschen gespielter Partien – mit Ansätzen des reinforcement learning kombiniert wurden, wurden dem Nachfolgeprogramm AlphaGo Zero lediglich die Go-Spielregeln eingepflanzt. Das Erlernen des Spiels und der Strategien geschah eigenständig: KI als Lehrer und Schüler zugleich. Das Ergebnis dieser konstruktiven Symbiose mit sich selbst? Nach dreitägiger Lernphase schlug AlphaGo Zero in hundert Partien hundert Mal seinen Vorgänger.
Poker:
Während Dame, Schach und Go als Zwei-Personen-Nullsummenspiele mit perfekter Information gelten, sind Kartenspiele wie Poker Spiele mit imperfekter Information, das heißt die einzelnen Spieler kennen nur ihre eigenen Karten. Daher stehen Spieler wie KI vor der Herausforderung, das eigene strategische Verhalten nicht oder nur sehr bedingt an Informationen zur Kartenverteilung der Gegner ausrichten zu können. Ein weiteres Problem besteht darin, vermeintliche Muster erkennen zu müssen, wie Gegner in der Vergangenheit spielten, oder welchen Stellenwert beispielsweise Risiko und Bluffs einnehmen.
Aber auch diese Herausforderung (ca. 10160 mögliche Spielkonstellationen) war letztlich für KI-Programme zu bewältigen. Erst schlug Ende 2016 Deepstack und unmittelbar darauf im Januar 2017 Libratus die menschliche Konkurrenz im Two-Player No-Limit Texas Hold’em aus dem Feld. In der Lernmethodik unterscheiden sich die Ansätze, im Ergebnis führten beide zum Erfolg. Ein weiterer Meilenstein nun in diesem Jahr: Libratus erklomm die nächste Stufe der Komplexität – es gewann in der Königsdisziplin, dem Multiplayer-Game gegen fünf professionelle Poker-Spieler.
E-Sport:
Auch im boomenden Markt des E-Sports, des sportlichen Wettbewerbs mittels Computerspielen, mischt Künstliche Intelligenz zwischen Hunderten Millionen von Spielern kräftig mit.
Gerade im Multiplayer Online Battle Arena-Genre erhöht sich die Vielschichtigkeit klassischer Brett- oder Kartenspiele. Für Triumphe in diesen Echtzeit-Strategiespielen wie Dota2 oder League of Legends, gespielt in der Regel zu fünft pro Team, sind neben schneller Reaktionsfähigkeit im Mikrosekundenbereich, also durchaus einer Domäne von Computerprogrammen, auch die soziale Interaktions-, Team- und Kommunikationsfähigkeit vonnöten, gemeinhin ein herausforderndes Terrain nicht nur für KI. Pionierleistungen erfüllte in diesem Bereich das Projekt OpenAI Five, dem es im April 2019 erstmalig gelang, den amtierenden Dota-Weltmeister OG zu schlagen.
Womöglich wird es für Programme wie AlphaGo Zero, Libratus und OpenAI alsbald nach kurzer Trainingszeit möglich sein, nacheinander oder sogar simultan die derzeit Führenden der Ranglisten im Poker, Stephen Chidwick, im Schach, Magnus Carlsen und im Go-Spiel, Shin Jinseo zu besiegen. Die nächste Stufe wäre damit erreicht: nicht nur einzelne Spiele oder Nischen zu bespielen, sondern mit ganz unterschiedlichen Komplexitäten und Ansätzen umzugehen.
In weiterer Konsequenz wird die Herausforderung stehen, spielunabhängig vielschichtige Probleme zu bewältigen, Lösungskompetenz zu entwickeln, generell also realistische (Alltags-)Situationen zu meistern.
Was bleibt uns als Gewissheit in diesem ungleichen Spiel? Dass wir als Homo Ludens weiterhin bestimmen, was wir wo wie spielen. Oder etwa nicht?
Auch diese Domäne beginnt mittlerweile zu bröckeln, seit dem Aufkommen von Speedgate, dem ersten von Künstlicher Intelligenz entwickelten Sportspiel, in dem Menschen spielen, was Maschinen selbständig entwickelt haben. Bleibt auch um des joga bonito willen zu hoffen, dass dies nur eine sportspielerische Randerscheinung bleibt.
Referenzen:
Grunwald, Armin (2019): Der unterlegene Mensch: die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern. München: riva.
Kreye, Andrian (2018): Macht Euch die Maschinen untertan: Vom Umgang mit künstlicher Intelligenz. München: Süddeutsche Zeitung Edition.
Ramge, Thomas (2018): Mensch und Maschine: Wie Künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern. Stuttgart: Reclam.
Weiterführendes:
AlphaGo – Film, USA 2017, Regie: Greg Kohs.
Vorschau: Im nächsten Beitrag entführen wir Sie in die Welt der Literatur – Sie begegnen Cyborgs und anderen Mischwesen!
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