Robert Radeckes Korrespondenz-Nachlass erschlossen
Im Sommer des vergangenen Jahres begann das Nachlass-Referat der Musikabteilung, den umfangreichen Korrespondenz-Nachlass Robert Radeckes (Signatur 55 Nachl 115) zu erschließen und in der Nachlass-Datenbank Kalliope für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die fast 6.000 Briefe, darunter von einigen der bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschsprachigen Musiklebens des 19. Jahrhunderts, und an die 700 Dokumente (z. B. Tagebücher und Bilder) sind nun in Kalliope, dem nationalen Nachweisinstrument für Nachlässe, Autographen und Verlagsarchive, einzeln recherchierbar. Die ebenfalls umfangreiche Programmzettelsammlung Radeckes wurde größtenteils im Konvolut erschlossen. Die im Nachlass enthaltenen Musikalien (4 Kästen) bleiben vorerst unerschlossen.
Robert Radecke (1830–1911), der heute wohl nur noch wenigen Expert:innen ein Begriff ist, nahm tatsächlich im Musikleben des 19. Jahrhunderts eine zentrale Stellung ein, wo er sich vor allem als Musikpädagoge und Dirigent, aber auch als Musiker und Komponist schnell einen Namen machte. Geboren 1830 im niederschlesischen Dittmannsdorf (heute Dziećmorowice) als Sohn des dortigen Kantors und Schullehrers Siegismund Radecke genoss er schon als Kind eine reiche musikalische Ausbildung. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rudolf (später ebenfalls Musikdirektor in Berlin) konnte er diese ab 1845 am Gymnasium in Breslau fortsetzen. Nach erfolgreichem Abschluss wurde er gemeinsam mit einigen seiner später engsten Freunde, darunter Engelbert Röntgen und Heinrich von Sahr, 1848 am Conservatorium der Musik zu Leipzig aufgenommen. Auch Woldemar Bargiel lernte er dort kennen. Zu seinen Lehrern zählten unter anderen Julius Rietz, Ferdinand David und Ignaz Moscheles. In Leipzig kam er um 1850 auch in den engeren Freundeskreis um Robert und Clara Schumann und war kurzzeitig zweiter Direktor der dortigen Singakademie, sowie Kapellmeister des Stadttheaters. 1853 zog Radecke schließlich nach Berlin, wo er endgültig in die erste Reihe bedeutender Musikpersönlichkeiten aufstieg. 1863 wurde er Musikdirektor an der Königlichen Hofoper, 1883 Direktor des Stern’schen Konservatoriums, 1892 schließlich Leiter des Königlichen Akademischen Instituts für Kirchenmusik, alles Positionen, aus denen heraus er das Musikleben seiner Zeit bedeutend mitprägte. Als Komponist blieben seine Erfolge vergleichsweise bescheiden. Lediglich ein Lied, eine Vertonung von Friedrich Rückerts Gedicht „Aus der Jugendzeit“, wurde zum durchschlagenden Erfolg und bahnte sich seinen Weg durch sämtliche Studentenverbindungen und Männergesangsvereine des deutschsprachigen Territoriums. Ein „One-Hit-Wonder“ des 19. Jahrhunderts.
Ergänzt wird der Brief-Nachlass durch Radeckes bereits 1997 von der Staatsbibliothek erworbenen musikalischen Nachlass (Signatur N.Mus.Nachl. 149), dessen vollständige Erschließung noch aussteht. Der Korrespondenz-Nachlass selbst kam erst 2018 als Schenkung durch die Witwe eines Urenkels Robert Radeckes in die Staatsbibliothek und enthält neben der beruflichen Korrespondenz mit bedeutenden Personen wie Joseph Joachim, Woldemar Bargiel, Clara Schumann, Ernst Rudorff, Max Bruch und anderen auch in großem Umfang Familienkorrespondenz, sowie Briefe und Dokumente aus den Nachlässen von Radeckes Onkel Ernst (1790–1873), der als Hofprediger und Konsistorialrat im Umfeld des Adelsgeschlechts Stolberg in Wernigerode wirkte, und seinem Sohn Ernst (1866–1920), der sich in der Schweiz als Musikdirektor im Musikkollegium Winterthur einen Namen machte. Auch die Familienkorrespondenz enthält Briefe bedeutender Persönlichkeiten der jeweiligen Zeit. So war Robert Radecke über seinen Onkel Ernst mit Johann Friedrich Reichardt und August Meineke verschwägert, über seinen Sohn Ernst mit Johann Karl Eschmann, über seinen Sohn Walther mit Hugo Bock, Leiter des Musikverlages Bote & Bock. Durch seine Frau Charlotte, Tochter des bedeutenden Theologen Ludwig Jonas, konnte Radecke Mitglieder einflussreicher Familien des Bürgertums wie Delbrück, Körte, Simson, Reimer und Benda, sowie des Adelsgeschlechtes derer von Schwerin zu seiner Verwandtschaft zählen. Insbesondere sind aber auch Radeckes frühere Jugendgeschichte in Dittmannsdorf, sein Aufwachsen im Kantorenhaus mit den vier die Kindheit überlebenden Geschwistern, von denen zwei unter tragischen Umständen noch im jungen Erwachsenenalter starben, sowie der Tod seiner Kinder Paul und Joachim Radecke und seiner Frau Charlotte dokumentiert. Ebenso finden sich Zeugnisse seiner musikalischen Reifeprüfungen in Leipzig und Berlin. Aus dieser Zeit stammen auch die zeitweise fast täglichen Briefe und Gedichte der deutlich älteren und kurz nach Radeckes Hochzeit verstorbenen Gesangslehrerin Johanna Zimmermann, die Jahrzehnte zuvor schon einmal Felix Mendelssohn umschwärmt hatte (vgl. Aus meinem Leben. Erinnerungen von Heinrich Dorn. Dritte Sammlung. Berlin 1872). Dies sei erwähnt, um nur einige der im Nachlass wartenden Aspekte zu nennen, über die man in historischen Veröffentlichungen wenig bis gar nichts findet und die daher viel Raum für grundlegende Forschung bieten.
Besonderer Dank gebührt an dieser Stelle Frau Maria Radecke-Vogel, die durch ihre Schenkung die Öffnung des Nachlasses für die Öffentlichkeit erst ermöglichte, ihrem verstorbenen Mann, dem Pfarrer Christian Radecke, der den Nachlass aufbewahrte, vorordnete und zum Teil in Regesten erschloss, und Hanspeter Renggli für dessen Redaktion von Christian Radeckes Arbeit.
Autor: Kai Pauldrach
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