Digitale Lektüretipps 38: Tusculum online
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
Tusculum – eigentlich die kleine Etruskersiedlung – war eine Landstadt südöstlich von Rom in den Albaner Bergen, in der Nähe des Weinortes Frascati. Der Ort wurde von den Stadtrömern im Hochmittelalter (1191) so nachhaltig zerstört, dass er nie wieder aufgebaut wurde. Hier besaßen Angehörige der antiken römischen Oberschicht ihre Sommerresidenz. Auch Cicero (106-43 v.u.Z.) gehörte zu den Villenbesitzern. Nachdem er 58 politisch kaltgestellt worden war und nie mehr seinen früheren Einfluss zurückgewinnen konnte, verbrachte er viel Zeit auf seinem Landgut. Wie sehr musste es diesen überaus ehrgeizigen Aufsteiger gekränkt haben, zum Privatisieren verurteilt zu sein. Dabei war er so stolz darauf, in seinem Jahr (suo anno) – d.h. im frühest möglichen – das höchste Amt der Römischen Republik, den Konsulat, erreicht zu haben (63). Indes machte er aus seiner Not eine Tugend und wurde literarisch ungemein produktiv. Die Tätigkeit umschrieb er mit dem Paradoxon otium cum dignitate, was man mit ‚würdevoller Müßiggang‘ übersetzen könnte. Er verfasste grundlegende Werke zur Rhetorik und rezipierte die griechische Philosophie für die lateinische Sprache. Eines seiner großen philosophischen Werke nannte er Tusculanae disputationes – ‚Gespräche in Tusculum‘. Cicero blieb bei aller geäußerten Sympathie für Platon Eklektiker. Er machte Anleihen bei den Lehren verschiedener Philosophenschulen, der Akademie Platons, dem Peripatos des Aristoteles und der Stoa, nicht jedoch dem Kepos Epikurs. Ein eigenes Lehrgebäude schuf er dabei nicht. Dennoch sollten wir die Leistung Ciceros nicht gering schätzen. Er schöpfte zahlreiche Begrifflichkeiten aus dem lateinischen Wortschatz zur Übersetzung griechischer Abstrakta. Und dabei war er ein glänzender Stilist, normsetzend für die lateinische Kunstprosa mit einer gewaltigen Nachwirkung bis in die Gegenwart.
Für seine Arbeit war Cicero bestens gerüstet durch eine hervorragende Ausbildung. Zu seinen Lehrern gehörte der führende Gelehrte seiner Zeit, Poseidonios (135-51 v.u.Z.), der auf Rhodos eine Schule leitete. En passant sei darauf hingewiesen, dass Poseidonios auch für die deutsche Geschichte eine Bedeutung besitzt. Er ist nach unserem fragmentarischen Überlieferungsstand der antiken Literatur der erste, der das Wort ‚Germanen‘ verwendet – pikanterweise im Kontext ihrer Essgewohnheiten. Der zweite ist übrigens Cicero in einer Rede (De provinciis consularibus), noch bevor Cäsar als dritter den Begriff in seinem Werk über den Gallischen Krieg nachhaltig beeinflusste
Sammlung Tusculum
Es war wohl der Gedanke des otium cum dignitate, der den jungen Ernst Heimeran (1902-1955) vor nahezu 100 Jahren zur Namensgebung ‚Tuskulum-Bücher‘ bzw. etwas später ‚Sammlung Tusculum‘ bewog. Damit benannte er die von ihm konzipierte Edition zweisprachiger Texte bedeutender Werke der Antike. Aus wohlhabender Familie stammend gründete der auch literarisch begabte Heimeran noch als Student der Kunstgeschichte im Jahr 1922 in München einen Verlag, zu dessen Schwerpunkt sich schnell die Reihe Tusculum entwickelte. Die antiken Schriften wurden um die wichtigen Überlieferungs- und Deutungsvarianten des antiken Textes ergänzt, also der Basisarbeit des Philologen. Anders als bei Druckwerken ist die Textgestalt bei handschriftlich überlieferten Werken ja oftmals nicht eindeutig.
Der Erfolg der Bücher beruhte auf zweierlei. Zum einen brach Heimeran mit der Aufnahme der Übersetzung den Widerstand der Philologen, die sich grundsätzlich gegen diese Form der Textwiedergabe wandten. Damals kursierten in der Regel anspruchslose, aber wörtlich sehr genaue Übertragungen, den Pädagogen ein Graus, bei den Schülern hingegen als Übersetzungshilfen vor allem im Kleinstformat sehr beliebt. Ich besitze Erinnerungen an eigene Gymnasialzeit vor fünf Jahrzehnten, als solche in der Schülersprache Schlauch genannten Verdeutschungen noch kursierten. Zum anderen gewann Heimeran für die Übersetzungsarbeit Fachleute, die stilistisch anspruchsvolle Übertragungen anfertigten. Ein Beispiel ist der renommierte Gräzist Bruno Snell (1896-1986). Er übersetzte die Fragmente des Vorsokratikers Heraklit – mit über einem Dutzend Neuauflagen. Übrigens veröffentlichte Snell 1946 einige seiner wichtigen Aufsätze und Reden unter dem beeindruckenden Titel Die Entdeckung des Geistes, erläutert durch den Untertitel Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Abgerundet werden zumindest die jüngeren Ausgaben der Sammlung Tusculum durch eine wissenschaftlich fundierte Einleitung, einen Kommentar zur Erklärung erläuterungsbedürftiger Stellen und ein Register der Eigennamen.
Anregen ließ sich Heimeran durch die 1912 von dem deutschstämmigen New Yorker Bankier und Klassischen Philologen James Loeb (1867-1933) ins Leben gerufene Loeb Classical Library. Sie bietet in vergleichbarer Weise Texte der Antike in der Originalsprache und in englischer Übersetzung mit knappem textkritischen und Sach-Kommentar. Diese hochangesehene Buchreihe wird inzwischen von der Harvard University Press verlegt. Die grundsätzlich einen gleichartig gestalteten Einband tragenden Textausgaben mit identischem Buchformat fallen dem Kenner sofort in einem Buchregal auf. Der einzige Unterschied ist die grüne Farbe der griechischen und die rote der lateinischen Werke. In gleicher Weise stechen in den Regalen des Lesesaals oder auch einer Privatbibliothek die Bände aus der Sammlung Tusculum ins Auge. Der charakteristische Umschlag mit der blassen Wiedergabe einer griechischen respektive lateinischen Handschriftenseite und die einheitliche Höhe des Buchrückens sind seit Jahrzehnten die verbindenden Elemente dieser Sammlung.
Zunächst betrieb Heimeran seinen Verlag nur im Nebenerwerb, im Hauptberuf war er Journalist. 1933 musste er seinen Beruf aufgeben – für seinen Verlag ein Glücksfall, denn seine verlegerische Tätigkeit wurde nun seine Hauptprofession. Ernst Heimeran starb im Jahr 1955 mit nicht einmal 53 Jahren. Sein Verlag überlebte ihn um 25 Jahre. Die nächsten Jahrzehnte wurde die Tusculum-Bücherei von dem Münchener Artemis-Verlag weitergeführt. Seit 2013 fungiert der führende Berliner Wissenschaftsverlag De Gruyter als Herausgeber. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Altertumswissenschaft. Auf der Verlagswebseite ist eine Übersicht über alle enthaltenen Bände der Sammlung Tusculum zu finden.
Mittlerweile ist das literarisch bedeutende Schrifttum der Antike zu einem ganz erheblichen Teil in dieser Reihe erschienen. Die Verlagsseite zählt derzeit über 270 Titel, jedes Jahr kommen etliche dazu. Die Sammlung Tusculum steht damit im deutschen Sprachraum konkurrenzlos da. Der klassisch sehr gebildete Heimeran dachte noch an die Abgänger des humanistischen Gymnasiums als Zielgruppe seiner Edition. Diese hatten ihre profunden Latein- und Griechischkenntnisse nach einem überaus anspruchsvollen Lektürepensum erworben. Von ihnen erwartete Heimeran zu Recht, dass sie sich in Mußestunden der späteren Jahre wieder dem Lesestoff ihrer Jugendtage zuwenden würden. Über vergessene Vokabeln sollte dann die parallel abgedruckte Übersetzung hinweghelfen. Doch wie haben die Zeiten sich geändert. Das humanistische Gymnasium alter Prägung ist tot. Selbst in der reinen klassischen Philologie sind gründliche Latein- und vor allem Griechischkenntnisse oftmals stark geschwunden. Die Reihe Tusculum wird deshalb nicht nur von Philologen, sondern von allen wissenschaftlich Tätigen bei unterschiedlichsten Fragestellungen zur Antike und ihrer Rezeption herangezogen. Hinzu kommen die rein literarisch Interessierten, die tiefer in den Text eindringen möchten.
Sammlung Tusculum online
Bereits kurz nach der Aufnahme ins Verlagsprogramm digitalisierte De Gruyter alle Bände und bietet sie jetzt zeitgemäß auch als E-Book an. Die Staatsbibliothek konnte dank der Sondererwerbungsmittel der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien in den vergangenen Jahren Tusculum online, wie die elektronische Buchreihe genannt wird, komplett erwerben. Wer die gesamte Sammlung im Stabikat aufrufen möchte, gibt am besten Sammlung Tusculum online ein. Wer gezielt einen bestimmten Schriftsteller sucht, gibt zusätzlich den Autorennamen ein. Nicht wenige Bände wie Stoa und Stoiker lassen sich allerdings keinem bestimmten Verfasser zuordnen. Insofern dürfte auch die umfassende Suche reizvoll sein.
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