Finde die Unterschiede! Eine interessante Neuerwerbung und ihr Beitrag zur Voltaire-Forschung

[Ein Beitrag von Stefan Duhr, Abteilung Handschriften und Historische Drucke]

Wer kennt es nicht, das Spiel aus Kindertagen: Finde die Unterschiede! Zwei Bilder, die sich ähnlichsehen und doch in den Details verschieden sind, sollen betrachtet und die Unterschiede ausfindig gemacht werden. Mal ist es eine Feder am Hut einer alten Dame, mal ein von zwei Kindern hin- und hergestoßener Ball, der ein anderes Muster hat.

Gibt es dieses Spiel auch für Erwachsene? Etwas komplizierter, vielleicht bezogen auf Buchstaben und Satzzeichen? So ähnlich kann man sich die Arbeit von Wissenschaftler*innen vorstellen, die vorhandene Drucke nach Abweichungen untersuchen. Analytische Druckforschung nennt sich diese Disziplin. Sie dient dazu, die Publikationsgeschichte eines Werkes für die Wissenschaft nachvollziehbar zu machen. Denn häufig durchläuft ein publizierter Text einen Veränderungsprozess, der neben orthographischen Anpassungen an den jeweiligen Zeitgeschmack auch die Wortwahl und den Inhalt betrifft. Die Gründe dafür waren verschieden. Neben der Zensur, die man vermeiden wollte, nahmen auch der Verfasser oder spätere Herausgeber bzw. Drucker Veränderungen vor.

Ähnlich wie die Kinder legen sich auch die Forscher*innen die beiden Objekte ihrer Betrachtung nebeneinander und blicken von einem zum anderen seitenweise hin und her. Tennispartie- oder Wimbledon-Methode heißt dies.

Auf die Dauer ist diese Art der Untersuchung jedoch für die Augen sehr ermüdend. Nicht jedes Detail kann so gefunden werden. Der amerikanische Bibliograph Charlton Hinman (1911-1977) hatte Mitte des letzten Jahrhunderts die Idee, eine in der Militärtechnik eingesetzte Erfindung zum Vergleich von Luftbildaufnahmen für die Untersuchung von Drucken William Shakespeares anzuwenden. Beim sogenannten Hinman-Collator wurden zwei Exemplare der First-Folio-Ausgabe von 1623 auf dafür vorgesehene nebeneinander befindliche Ablagen gelegt und mittels eines Binokulars, einem speziellen Objektiv, abwechselnd betrachtet, wobei eine Konstruktion von Spiegeln und Lampen dabei half, zwischen diesen hin- und herzuschalten. Diese sogenannte kinematographische Methode kommt auch heute noch zum Einsatz, wobei dafür seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Kameras und Computer verwendet werden. Heute werden dazu zunächst Digitalisate der betreffenden Bände angefertigt und diese dann seitenweise in einer Software wie dem Traherne Digital Collator der University of Oxford übereinandergelegt, wobei die Unterschiede farblich markiert sind.

Wie diese Methode in der Praxis aussieht, soll anhand zweier 1762 in Genf gedruckter Auflagen der „Pucelle d’Orléans“ von Voltaire genauer dargestellt werden. Die Staatsbibliothek zu Berlin hat kürzlich zwei Exemplare der einen Auflage und ein Exemplar der anderen Auflage erworben. Das Antiquariat Nicholas Marlowe Rare Books bietet dazu in seinem Katalog bereits einige Hinweise, die hier Berücksichtigung finden sollen.

Marlowe vermutet, dass Gabriel Grasset (1725-1782), der bis 1761 Mitarbeiter der Brüder Cramer und danach selbständig, aber ohne behördliche Zulassung tätig war, hier einen im Satz und Buchschmuck sehr eng am Original angelehnten Nachdruck angefertigt hatte. Sogar die falsche Seitenzählung zwischen den Seiten 272 und 277 ist übernommen worden.

Dieser Druck kam sehr wahrscheinlich mit dem Wissen Voltaires zustande. Andrew Brown und Ulla Kölving konnten bei ihren Untersuchungen in den Jahren 1987 und 2009 eine enge Zusammenarbeit zwischen Voltaire und Gabriel Grasset ab 1764 ausmachen, vermutlich gab es diese bereits in geringerer Form zwei Jahre zuvor. Viele ehemals den Brüdern Cramer zugewiesene Drucke sind inzwischen als Drucke Gabriel Grassets identifiziert worden.

Bislang wurde der erwähnte Druck noch nicht als eigenständige Auflage identifiziert, sondern den Brüdern Cramer zugeschlagen. Anhand der bereits vorhandenen Digitalisate lässt sich jedoch ein weiteres Exemplar in der Königlichen Bibliothek in Den Haag (Signatur: KW 2213 G 29) nachweisen.

Bei Marlowe findet sich eine Gegenüberstellung der in den Drucken verwendeten Zierelemente, die in den Details voneinander abweichen. Beispielsweise betrifft dies die Vignette auf dem Titelblatt. Aber nicht nur die Zierelemente, sondern auch die Typographie sowie die auf den eingebundenen Tafeln befindlichen Illustrationen weichen voneinander ab.

Auf dem Titelblatt aus der vergleichenden Anzeige des Traherne Digital Collator wurden die wesentlichen Unterschiede bereits farblich markiert. Links sieht man die mutmaßlich bei Cramer, rechts die mutmaßlich bei Grasset erschienene Auflage. Auffällig sind vor allem die unterschiedliche Form des Tremas bei „Poëme“ und die in der bei Grasset-Auflage fehlenden kleinen Blätter in der Titelvignette (so auch zu finden auf Seite 294 = Blatt T1v).

zwei Titelblätter der Pucelle von 1762

 

Markant sind die Unterschiede auch zum Textbeginn auf der unpaginierten Seite 1:

Seite 1 der Pucelle von beiden hier behandelten Auflagen

 

Hier kann man gut erkennen, dass neben dem Buchschmuck auch typographische Abweichungen vorliegen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Stellung des Punktes am Ende des Kopftitels, sondern auch um die Form der einzelnen Drucktypen. Zudem ist die Position der Lagensignatur „A“ eine andere.

Bezogen auf den gesamten Druck ließen sich die folgenden markanten Unterschiede in der Typographie ausfindig machen:

Es wurde zunächst versucht, ob anhand der auffälligen typographischen Unterschiede eine eindeutige Zuordnung zu einem der beiden Drucker möglich ist. Dazu wurde u.a. die 1756/57 erschienene Oeuvres-Ausgabe von Cramer hinzugezogen. Hierbei war die Verwendung derselben Typen leicht festzustellen.

Tabelle mit typographischen Übereinstimmungen bei Cramer

Auch für die Grasset-Ausgabe wurde ein entsprechender Vergleich gezogen. Hier zum „Dictionnaire philosophique, portatif“ von 1764, das in verschiedenen Auflagen mit dem fingierten Erscheinungsort „Londres“ erschienen ist. Zum Typenvergleich wurden zwei Auflagen hinzugezogen: 1.) die 272 Seiten umfassende, vermutlich in Avignon und 2.) die 344 Seiten umfassende, vermutlich in Genf bei Grasset erschienene Auflage. Dabei wurde deutlich, dass nicht die 344 Seiten umfassende, sondern die 272 Seiten umfassende Auflage ähnliche Typen aufweist. Das ist insbesondere beim Asterisk, beim kursiven et, beim kursiven v und beim kursiven z erkennbar. Es ist hier nicht klar, ob die zum „Dictionnaire philosophique, portatif“ ermittelten Veröffentlichungsangaben wirklich stimmen.

Ein Typenvergleich bietet jedoch keine vollständige Sicherheit, da für diese Zeit eine bestimmte Type nicht mehr einem bestimmten Drucker zugewiesen werden kann. Es ist also durchaus möglich, dass Grasset 1762 andere Typen verwendet hat als 1764.

Bei den verwendeten Holzschnitt-Zierelementen lassen sich neben der bereits erwähnten Titelvignette u.a. folgende markante Unterschiede zwischen den Pucelle-Ausgaben feststellen:

Eindeutiger als bei den Typen war beim Buchschmuck die Zuweisung zum Drucker. So werden in der 1762 bei Cramer erschienenen Pucelle-Ausgabe dieselben Zierelemente verwendet wie in der 1756/57 erschienenen Oeuvres-Ausgabe (s. die Hinweise in der Tabelle).

Auch bei den eingebundenen Bildtafeln gibt es einige Unterschiede, die in der folgenden Tabelle in Auswahl kurz aufgeführt sind.

Auffällig ist insbesondere der Perspektivwechsel bei einzelnen Illustrationen der Grasset-Auflage. Es ist zu vermuten, dass als Vorlage für einzelne, wenn nicht sogar für alle Druckplatten nicht die seitenverkehrten Druckplatten, sondern die seitenrichtigen Abdrucke der Cramer-Auflage gedient haben.

Was war nun aber der Grund für diesen Doppeldruck? Wollte Voltaire damit einfach die Auflage erhöhen? Oder ging es ihm darum, die Herkunft dieses Drucks aufwendig zu verschleiern? Allein das Nachschneiden der Zierelemente und das Nachstechen der Bildtafeln war mit erheblichen Kosten verbunden. Voltaire verfügte über die dafür notwendigen finanziellen Mittel und war bereit, diese bei der Veröffentlichung seiner Werke auch einzusetzen.

Diesen Fragen nachzugehen ist Aufgabe der Forschung. Die Aufgabe der Staatsbibliothek zu Berlin, die dafür notwendigen Exemplare zur Verfügung zu stellen und darauf hinzuweisen, ist durch die vertiefte Formalerschließung (vgl. https://stabikat.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=13773266X und https://stabikat.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=1760556033 sowie zur Methodik der Erschließung) erfüllt.

Wenn Sie Voltaire-Forscher*in sind, kommen Sie nach Berlin! Es lohnt sich.

1 Antwort
  1. Avatar
    Sandra sagte:

    Danke für das Aufzeigen der ausschlaggebenden Details und die Erläuterung der Hintergrundinformationen und Vermutungen zu Voltaires Absichten. Sehr interessant!

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