Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access

Galt noch in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts Leipzig als unangefochtenes Zentrum der deutschen Buchindustrie, verschob sich der Schwerpunkt dieser Branche spätestens mit der Reichsgründung nach Berlin. So zählte die Hauptstadt zur Jahrhundertwende 3.384 buchgewerbliche Betriebe mit insgesamt mehr als 11.000 Angehörigen – darunter 541 Druckereien, von denen zwei sogar über eine eigene Hausgießerei verfügten, sowie alleine acht selbstständige Schriftgießereien –, Leipzig dagegen nur 1.482 Unternehmen mit knapp der Hälfte der Beschäftigtenzahl. Von besonderer Bedeutung für die Geschichte dieses für Berlin so wichtigen Industriezweigs ist die 1858 in Kreuzberg gegründete und erst 1993 vom Markt verschwundene H. Berthold AG, die durch Übernahme zahlreicher konkurrierender Unternehmen bis zum Ende der Weimarer Republik sogar zu einer der größten Schriftgießereien der Welt aufsteigen und die einflussreiche Gestaltungsrichtung des International Typographic Style prägen sollte – nicht zuletzt dank ihrer Kooperation mit dem Staatlichen Bauhaus.

Reichtum und materiale Vielfalt der typografischen Kultur im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts spiegeln freilich nicht nur die zeitgenössischen Holz-, Kunststoff- und Metalllettern sowie die damit hergestellten Druckerzeugnisse, sondern auch die für Wirtschafts-, Kunst- und Buchgeschichtsforschung gleichermaßen relevante Gattung der Schriftproben. Solche Musterbücher mit einem Umfang von wenigen Blättern bis zu vielen hundert Seiten dienten Gießereiunternehmen wie Druckereien – ob mit eigener Hausgießerei oder ohne – zur internationalen Vermarktung ihres jeweiligen Angebots an Schriften, Zeichen und Zierelementen.

Obschon diese in großer Zahl in Archiven, Bibliotheken und Museen erhaltenen Schriftmusterbücher ihrem Stellenwert für die visuelle Alltagskultur zum Trotz nach wie vor kaum Beachtung von Seiten der Öffentlichkeit finden, besitzen sie gleichwohl nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Bedeutung – gerade auch für die Berliner Kreativwirtschaft. Zahlreiche digital entworfene Schriften sind nämlich von historischen Vorlagen inspiriert – darunter z.B. die 2018 vom Schöneberger Designbüro LucasFonts auf Basis von Bertholds Akzidenz-Grotesk aus dem Jahr 1898 gestaltete Hausschrift des Autoherstellers Volvo. Zudem legen Schriftproben das zentrale, bislang jedoch nur völlig unzureichend digital zugängliche Quellenfundament typografiehistorischer Forschung, wie sie nicht nur an Kunsthochschulen, sondern auch an zahlreichen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen betrieben wird. Ungeachtet ihrer Forschungsrelevanz steht eine umfassende wissenschaftliche Studie zur Gattungsgeschichte der Schriftprobe allerdings noch immer aus. Von einer systematischen Digitalisierung von Schriftmusterbüchern dürften daneben aber auch informatikwissenschaftliche Initiativen wie der von der Staatsbibliothek zu Berlin mitkoordinierte nationale Projektverbund OCR-D zur Weiterentwicklung von Verfahren der Optical Character Recognition (OCR) für historische Drucke profitieren, erhalten diese doch mit den erzeugten virtuellen Schriftkorpora hochwertiges Trainingsmaterial zur Optimierung der eingesetzten Texterkennungsalgorithmen. Über die Erweiterung des am Klingspor-Museum Offenbach erstellten Internationalen Index der Bleisatzschriften um digitalisierte Schriftproben hinaus könnte ein solches Projekt perspektivisch sogar – so zumindest unsere Hoffnung – den Initialimpuls für ein von Forschungsseite wiederholt eingefordertes Vorhaben zur Dokumentation des typografischen Kulturerbes Europas unter dem Dach der Europeana geben.

Um die angesprochenen Desiderate zumindest in Teilen einzulösen, haben Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH, Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin und wir zu unserer großen Freude Mittel für ein gemeinsames Vorhaben im Förderprogramm zur Digitalisierung von Kulturgut des Landes Berlin (digiS) einwerben können. Denn allen an dem am 1. Januar 2021 gestarteten, auf zwölf Monate angelegten Projekt beteiligten Einrichtungen ist die Beschäftigung mit Druckschriften gemeinsam: Während das Deutsche Technikmuseum Berlin vor allem die technikhistorische Dimension des spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die ökonomische Entwicklung Berlins hochbedeutsamen polygrafischen Gewerbes in den Blick nimmt, geht es der gemeinnützigen Erik Spiekermann Foundation vor allem um Bewahrung der Kulturtechnik des Buchdrucks sowie um Entfaltung ihres Potentials mit den Möglichkeiten des Digitalen. Demgegenüber haben sich Kunstbibliothek und Staatsbibliothek zu Berlin der systematischen Dokumentation des typografischen Kulturerbes Europas seit dem Gutenbergzeitalter in seiner Doppelfunktion als Informations- und Kunstmedium verschrieben. Wissenschaftlich begleitet wird das Digitalisierungsvorhaben von Angehörigen des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Hochschule Niederrhein Krefeld sowie des Vereins für die Schwarze Kunst.

Angesichts der kaum zu überschätzenden Bedeutung der H. Berthold AG für Berlins Typografiegeschichte versteht es sich, dass die Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin dieses Verbundprojekt koordiniert, verwahrt sie doch nicht nur das Archiv des Kreuzberger Unternehmens, sondern auch dessen eigene Schriftprobenbibliothek. Schließlich wollte man in der – zumal nie einer Akquisition zum Transfer gestalterischen bzw. technischen Knowhows nach Berlin abgeneigten – H. Berthold AG über die Schriftentwürfe konkurrierender Unternehmen im In- und Ausland im Bilde bleiben.

In Reaktion auf das Paradox, dass Druckschriften gerade in ihrer lebensweltlichen Omnipräsenz allzu häufig übersehen werden und in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit nicht selten unsichtbar bleiben, möchte das Gemeinschaftsvorhaben – um die eigentlichen Projektziele endlich konkret zu machen – am Beispiel Berlins einen multiperspektivischen Beitrag dazu leisten, Typografie zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Dazu sollen etwa 400 Druckschriften Berliner Gießereien für den Akzidenz- und Buchdruck aus der Zeit vor 1951 in unterschiedlichen materialen Erscheinungsformen – als Schriftmusterbücher sowie als Andrucke von Blei-, Holz- und Kunststofftypen – erschlossen, digitalisiert und im Open Access zugänglich gemacht werden. Mit seinen Resultaten will dieses Vorhaben zugleich das Fundament für eine Vielzahl zielgruppenspezifischer Vermittlungsaktivitäten legen – z.B. in Gestalt von Druckworkshops an historischen Maschinen, von Hackathons zur Herstellung von Computerfonts oder von Crowdsourcing-Veranstaltungen zur Identifikation unbekannter Berliner Schriftproben in privaten Sammlungen.

Über die Fortschritte des Vorhabens werden wir selbstverständlich regelmäßig informieren – u.a. auch hier im Blog. Zur Einstimmung haben wir im Folgenden noch einige typische (im Wortsinn) Lektüre- und Videotipps, mit denen Sie die Schriftprobe aufs Exempel machen können.

Forschungsliteratur

Dan Reynolds: Schriftkünstler – A historiographic examination of the relationship between handcraft and art regarding the design and making of printers’ type in Germany between 1871 and 1914, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Diss., 2020

Nikolaus Weichselbaumer: Die Entwicklung typographischer Schriftproben, in: Jahresbericht der Erlanger Buchwissenschaft 4 (2013), S. 38-44

Videos

https://www.youtube.com/watch?v=JSfkgvOKEIc
(= Vortrag von Dan Reynolds im Rahmen der von der Staatsbibliothek zu Berlin organisierten Reihe Die Materialität von Schriftlichkeit – Bibliothek und Forschung im Dialog mit zahlreichen Aufnahmen aus den Sammlungen des Projektkonsortiums an Schriftmusterbüchern)

https://www.youtube.com/watch?v=cdoBpMOs4Tg
(= Vortrag von Erik Spiekermann im Rahmen der von der Staatsbibliothek zu Berlin organisierten Reihe Die Materialität von Schriftlichkeit– Bibliothek und Forschung im Dialog mit zahlreichen Einblicken in seine Sammlung an Holz-, Blei- und Kunststofflettern)

 

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